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Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)

Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)

Titel: Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
Autoren: Thomas Müller
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Entscheidungen einer Person kann man nicht mit einem Metermaß messen. Es existiert auch keine Waage, mit deren Hilfe man feststellen könnte: Eine Person ist zu 3 1 /2 kg gefährlich oder nicht. Das einzig adäquate Mittel, um in der Beurteilung ein Verhalten messen zu können, bietet der Vergleich. Das Verhalten einer Person ist mit dem Verhalten vieler anderer Personen unter ähnlich gelagerten Umständen zu vergleichen. Nur dieser objektive Vergleich einer bestimmten Entscheidung sichert uns die Möglichkeit, ein bestimmtes Verhalten einordnen und unter Umständen auch beurteilen zu können. Aus diesem Grunde werde ich auch mit Lutz Reinstrom sprechen.

3.

    Natürlich kannte ich ihn von Bildern, von Zeitungsberichten, aus den Akten. Aber es ist eben ein Unterschied, was man über einen Menschen weiß oder von ihm selbst erfährt. Denn gerade das direkte Gespräch eröffnet die Möglichkeit der Manipulation und der verbalen und nonverbalen Täuschung. So gesehen, betrat er nicht den Raum. Er füllte ihn vom ersten Moment an aus, als er die Türe öffnete und sich zuerst dafür entschuldigte, dass er etwas zu spät kam. Er teilte mir zwar mit, dass man ihn verständigt hatte, dass ich kommen würde, ergänzte aber, dass er nicht wusste, wann genau. Es war genau jene Ausstrahlung der Selbstsicherheit, die man nur bei wenigen Menschen findet, die selbst in der Zeit der Krise noch aufrecht stehen und sich nicht anmerken lassen, dass sie verloren haben. Seine Stimme war fest, etwas überhöht vielleicht, sein Augenkontakt eindeutig und der Händedruck bestimmend. Selbst nach all den vielen Gesprächen, die ich in Hochsicherheitsbereichen geführt hatte, wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht, ob es besser sei, den Raum zu betreten, wenn der Gesprächspartner bereits anwesend war oder umgekehrt. Nachdem Lutz Reinstrom eingetreten war, wusste ich es. Es war ein Fehler, gewartet zu haben. Ich hätte es eigentlich wissen müssen: Dieser Mann war ein anderes Kaliber. Er unterschied sich so ziemlich in allem von jenen Leuten, die junge Frauen vergewaltigt und umgebracht, oder jenen, die Leichen geschändet oder Dutzende Brandstiftungen begangen haben. Er besaß diese nicht zu beschreibende Bestimmtheit. Er strahlte Dominanz und Kontrolle aus, ohne dass er etwas sagte. Es war die Art, wie er sich bewegte, die Form der Entschuldigung, seine Stimme und seine zurückhaltende Einladung, mit ihm ein Glas Tee zu trinken.
    Er hatte alles in einem Jutesack mitgebracht: zwei Gläser, Teelöffel, Zucker, unterschiedliche Teebeutel und eine Thermoskanne mit heißem Wasser. Er nahm am Tisch Platz, entsprechend der Anordnung, so wie wir es immer und immer wieder, auch beim FBI, trainiert und besprochen hatten – in jener Anordnung, dass ich den Blick zur Ausgangstüre frei hatte, in angemessener Distanz zum Gesprächspartner. Er entschuldigte sich abermals für seine mangelhafte Vorbereitung, schob die Schuld aber keinesfalls irgendjemand anderem zu, sondern ließ sie einfach offen. Mit gezieltem Humor ließ er mir noch die Wahl zwischen Pfefferminz- und Früchtetee und fügte der freundlichen Einladung noch hinzu, der Staat übernehme die Kosten.
    Er öffnete eine kleine Mappe, in der er, wie er selbst feststellte, rasch ein paar Unterlagen von sich und aus den Gerichtsverfahren zusammengerafft hätte, und teilte mit, dass er eigentlich schon auf dem Weg zur Arbeit gewesen sei, als man ihm mitgeteilt habe, dass ich heute gerne mit ihm sprechen würde.
    Man geht nie unvorbereitet in solche Gespräche. Man liest Akten, analysiert die Tatorte, spricht mit den Rechtsmedizinern oder liest deren Gutachten. Man studiert Landkarten, Biografien, toxikologische Berichte und Zeugenaussagen. Es ist wie bei einem Schachspiel. Wer mit der weißen Figur beginnt, ist um einen einzigen Zug voraus, aber nur um einen. Bei diesem Gespräch mit Lutz Reinstrom war mir nach kurzer Zeit bereits klar, dass ich alles andere als einen Zug voraus war. Seine Entschuldigung ohne Schuldzuweisung, seine freundliche, aber bestimmte Einladung, sein dominierendes und festes Auftreten und seine nahezu feine, wenn nicht sogar in seinem Klang manipulierende Stimme gaben mir rasch das Gefühl, dass dieses Gespräch anders sein würde als Dutzende davor. Es war seine offene Art, mir bestimmte Fragen zu beantworten. Er hörte manchmal gar nicht auf zu reden. Er sprach über sich selbst, die Haft, das Gerichtsverfahren, die Anklagevertretung, die Medien, seinen
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