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Beobachter

Beobachter

Titel: Beobachter
Autoren: C Link
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dass es nichts brachte, sich dagegen zu wehren.
    Und dennoch war alles in ihm Auflehnung. Auflehnung und dazwischen immer wieder niederschmetternde Hoffnungslosigkeit. Denn welche Chance hatte er? Er war kein attraktiver Mann, das sah er ohne jede Illusion. Früher ja, aber heute … Den dicken Bauch verdankte er seiner Vorliebe für Bier und fettes Essen. Er hatte schlaffe, aufgeschwemmte Gesichtszüge. Er war achtundvierzig Jahre alt und sah zehn Jahre älter aus, besonders dann, wenn er abends zu viel getrunken hatte, und leider schaffte er es nicht, damit aufzuhören. Er müsste Sport treiben und mehr Gemüse essen, dazu Wasser oder Tee trinken, aber Herrgott noch mal, wenn man dreißig Jahre lang anders gelebt hatte, dann ging das nicht so einfach mit der Umgewöhnung. Er fragte sich, ob ihn diese Elfe, diese Fee, dieses wunderbare Wesen trotzdem würde lieben können. Trotz Bauch und Tränensäcken und obwohl er bei der kleinsten Anstrengung keuchte und schwitzte. Er hatte innere Werte, und vielleicht würde es ihm gelingen, ihr diese zu vermitteln. Denn er hatte längst begriffen, dass er nicht auf sie würde verzichten können. Trotz Lucy und ihrer Eifersucht und trotz des Risikos, das er einging.
    Er war ein achtundvierzigjähriger Fettsack mit einem Körper und einer Seele, die in Flammen standen.
    Das Problem war: Sie, die Fee, das Wesen, nach dem er sich Tag und Nacht verzehrte, war so viel jünger. So sehr viel jünger.
    Sie war neun.

TEIL I

SAMSTAG, 31. OKTOBER 2009
    Es gelang Liza, den Ort der Veranstaltung ungesehen zu verlassen, als der Sohn des Jubilars zu einer Rede ansetzte. Er hatte mehrfach mit einer Gabel gegen sein Glas geschlagen, und endlich hatten die rund einhundert geladenen Gäste begriffen. Das Reden und Lachen, das den Raum mit einem Dröhnen zu erfüllen schien, war verstummt, und alle Blicke wandten sich dem nervösen Mann zu, der in diesem Moment nichts so sehr zu bereuen schien wie seinen Entschluss, dem Vater zu dessen fünfundsiebzigstem Geburtstag eine Laudatio zu halten.
    Ein paar Männer witzelten, weil der Redner abwechselnd rot und blass wurde und sich dann so verhaspelte, dass er dreimal neu ansetzen musste, ehe er wirklich beginnen konnte. Auf jeden Fall zog er mit seinem ungekonnten Auftritt die gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
    Der Moment konnte günstiger nicht sein.
    Liza hatte sich während der letzten Viertelstunde bereits in die Nähe des Ausgangs vorgearbeitet, und so hatte sie nun nur noch zwei Schritte zu gehen, ehe sie draußen war. Sie schloss die schwere Tür hinter sich, lehnte sich für einen Moment tief atmend gegen die Wand. Wie ruhig es hier draußen war. Wie kühl! Der Raum hatte sich durch die vielen Menschen unnatürlich aufgeheizt. Obwohl sie den Eindruck gehabt hatte, dass niemand so sehr unter der Hitze litt wie sie. Aber überhaupt schien jeder den Abend aus tiefstem Herzen zu genießen. Schöne Kleider, Schmuck, Parfüm, ausgelassenes Lachen. Und sie inmitten des Geschehens und doch getrennt von allen anderen wie durch eine unsichtbare Wand. Sie hatte mechanisch gelächelt, hatte geantwortet, wenn sie etwas gefragt wurde, hatte genickt oder den Kopf geschüttelt und von ihrem Champagner getrunken, aber die ganze Zeit war sie wie betäubt gewesen, hatte das Gefühl gehabt, zu funktionieren wie eine Marionette, die an Fäden hing und von irgendjemandem geführt wurde, ohne zu einer einzigen eigenständigen Bewegung fähig zu sein. Und genau so war es eigentlich seit Jahren: Sie lebte nicht mehr nach ihrem eigenen Willen. Wenn man das, was sie tat, überhaupt noch leben nennen konnte.
    Eine junge Angestellte des eleganten Kensington-Hotels, in dem der Geburtstag standesgemäß gefeiert wurde, kam vorbei und verharrte einen Moment, unschlüssig, ob die an der Wand lehnende Frau vielleicht Hilfe brauchte. Liza vermutete, dass sie ziemlich mitgenommen wirkte, jedenfalls dann, wenn sie auch nur ungefähr so aussah, wie sie sich fühlte. Sie richtete sich auf und versuchte zu lächeln.
    »Alles in Ordnung?«, fragte die Angestellte.
    Sie nickte. »Ja. Es ist nur … es ist ziemlich heiß da drinnen!« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Tür. Die junge Frau sah sie mitleidig an, ging dann weiter. Liza begriff, dass sie unbedingt die Toilette aufsuchen und sich herrichten musste. So, wie die gerade geschaut hatte, schien sie ziemlich derangiert auszusehen.
    Der marmorgeflieste Raum empfing sie mit sanftem Licht und einer leisen, beruhigenden
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