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Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition)
Autoren: Milada Součková
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bei der der Held in seinen letzen Lebensjahren zur Untermiete gewohnt hat. Keine dieser alten Erklärungen werde ich heranziehen, sie glaubt ohnehin niemand mehr, aber Schriftsteller und Leser wollen aus purer Bequemlichkeit nichts daran ändern.
    Die Aufzeichnungen, die ich dir vorlege, kommen aus keiner der oben angeführten Quellen, sie sind ausgedacht; was ihnen jedoch nichts von ihrer Wahrhaftigkeit nimmt. Ich lege sie dir also zur Beurteilung vor:
    Aufzeichnungen eines ehrgeizigen jungen Mannes
    Meine Aufzeichnungen beschreiben Gemütsbewegungen, die nicht nur mein eigenes Erlebnis und Schicksal sind: viele junge Männer werden sie verstehen, mit ihren Gefühlen und Gedanken derselben Meinung sein.
    Ich will in mir den Widerspruch des 19. Jahrhunderts überbrücken, den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis. Ich will der Typ Mann des neuen Jahrhunderts sein, dessen Taten nicht hinter seinen Kenntnissen herhinken,der im Leben nicht durch Rücksichten, die seine Zukunftsmöglichkeiten zerstören, gebremst wird.
    Ich studierte zwar Geschichte und Philosophie, aber das bedeutet nicht, dass ich Philosoph und Historiker sein möchte. Schriftsteller? Nur wenn es um Gelegenheitsschriften geht, die meine Gedanken darlegen, mein Verhalten erklären würden.
    Darin, dass ich Geschichte und Philosophie studierte und sie ablehne, in diesem scheinbaren Paradox liegt der Dreh- und Angelpunkt, von dem aus man am besten zu einem Schluss kommen kann. Ich studierte Geschichte und Philosophie, aber nicht wie die Philister (ich habe hier täglich das Beispiel des Professors T. vor Augen), die in stiller Geborgenheit zufriedenen Lebens Gedanken über den Sinn der Geschichte konzipieren. Sie sind durch den Historismus belastet und zugleich durch ihn vor jedem Risiko geschützt. Erscheint ihnen irgendein Gedanke allzu gewagt, formulieren sie ihn augenblicklich so, dass er auch die strengste kleinstädtische Zensur passiert, für die ihr Leben symbolisch ist. Ich lehne die Verantwortung für die Zukunft durch Hinweis auf die Vergangenheit ab. Pontius Pilatus war bestimmt ein stümperhafter Philosoph und Historiker. Sie waschen sich die Hände in dem, was sie reine Wissenschaft nennen, was ihre Kollegen reine Philosophie nennen. Diese Philister, vor denen ich meine Geringschätzung für das, was sie Moral nennen, verbergen muss.
    Alle hier (außer diesem Professor T., der vom Historismus so durchtränkt ist, dass er an der eigenen Frau genug hat) denken nur an die Ehefrauen und die Töchter der Anderen; sie verbergen ihre Gelüste unter gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit und Höflichkeit, während die Frauengelernt haben, sich mit geschickt angeeigneter Prüderie zu maskieren. Einzig Fräulein H. ist zu temperamentvoll, als dass es ihr immer gelänge, sich im Rahmen vorgeschriebener Schicklichkeit zu halten. Unter diesen blutarmen Fräulein und Frauen unterschiedlichster Erfahrungen ist sie in manchem eine Ausnahme.
    ***
    Wie ist der Pessimismus zu überwinden, der aus dem rationalen Erkennen kommt?
    Sich der Lebenskraft anschließen, der primitiven Kraft, die Wörter wie Leben, Stärke, Mut, Heldentum, Willen, Macht, Lebensbejahung, Naturbejahung im Munde führt. Zur Natur zurückkehren, deren Äußerungen ewig ein und dieselben bleiben, durch alle Veränderungen der Generationen, der Geschichte, der Zivilisation hindurch.
    Ich zähle dazu nicht die verlorenen, an der Universität verbrachten Jahre. Sollte ich Jura studieren? In praktischer Hinsicht wäre das am Ende vielleicht vorteilhafter gewesen. Bildet nicht für die meisten Politiker heute eine juristische Tätigkeit die Grundlage? Ja, gerade gegen diese philisterhafte Auffassung von Staatskunst wollte ich protestieren, vorerst wenigstens durch meine Studienwahl. Ich weiß doch, wie man am leichtesten so eine politische Karriere aufbaut, aber diese Auffassung von Politik ekelt mich eben an.
    Seit Napoleon gab es keinen Staatsmann, der die Begeisterung großer Massen, der Völker, der Jugend, erwachsener Männer ebenso wie der Frauen, geweckt hätte; wir haben keine Staatsmänner, deren Geschichte durch Vermittlung von historischem Pathos gewinnen würde. Das ganze neunzehnte Jahrhundert zeigt nur pathologischen Zerfall, denWiderspruch von Theorie und Praxis. Warum? Weil Politiker Männer liberaler Ideen und liberaler Handlungen sind, Männer die Ideen mit Taten und Taten mit Ideen versöhnen.
    »Angenommen, Sie haben recht, junger Mann, aber warum studieren Sie dann
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