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Beifang

Titel: Beifang
Autoren: Ulrich Ritzel
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Stuttgart, und so fuhren sie in dem gebrauchten Kombi, den er für seinen und Barbaras Schwarzwald-Urlaub gekauft hatte, von Echterdingen an Degerloch vorbei in den Talkessel hinunter in die Reinsburgstraße, wo Franziska Kahn, Witwe des Internisten Dr. med. Julius Kahn, noch bis 1940 gelebt hatte, bevor man sie zwang, ihre Wohnung zu räumen und in das überfüllte Altersheim Herrlingen umzuziehen.
    Während der Fahrt unterhielten sich die beiden Frauen - beide hatten im Fond Platz genommen -, vielleicht war es auch kein Sich-Unterhalten, sondern ein weiteres Abschätzen und Einordnen, Judith Kahn-Ericson MD war Neurologin und forschte an der Universität Canberra; hauptsächlicher Anlass ihrer Reise nach Europa war ein Kongress über Hirnforschung gewesen, den die Universität Amsterdam ausgerichtet hatte.
    Inzwischen hatte sich die zunächst eher unterkühlte Stimmung zwischen den beiden Frauen etwas aufgewärmt; Judith Kahn erzählte einiges von ihrer Familie, ihre Großmutter Franziska war Pianistin gewesen, was schon damals bedeutet hatte, dass sie sich als Klavierlehrerin durchschlagen musste, ehe sie - schon nicht mehr ganz jung - im Jahr 1909 den verwitweten Arzt und Internisten Julius Kahn geheiratet hatte. Ihr einziges Kind, Alexandra Kahn, Kosename Alex, hatte früh politisch Stellung bezogen - nämlich sehr links, und war bereits 1933 nach Großbritannien emigriert. In Deutschland war Alex nur noch einmal gewesen, 1945, Wochen nach dem Kriegsende, und hatte darüber für eine trotzkistische britische Wochenzeitung berichtet. Ein Jahr später war sie nach Palästina gegangen; dort war sie kurz vor der Jahrtausendwende gestorben.
     
    Die Reinsburgstraße - dort, wo Dr. med. Julius Kahn seine Praxis gehabt hatte - war zugeparkt, und die Adresse, die Judith Kahn sich notiert hatte, befand sich in einem gesichtslosen
grauweißen Nachkriegsneubau. Trotzdem wollte sie das Haus fotografieren, Berndorf stellte den Wagen in eine Einfahrt und blieb am Steuer sitzen, während die beiden Frauen ausstiegen und an den verhängten Fenstern des Hochparterres vorbeigingen. An ihrem Gang konnte man sehen, dass sie enttäuscht waren. An der Eingangstüre blieben sie kurz stehen und betrachteten die Namensschilder am Klingelbrett, dann ging Judith Kahn zum Rand des Gehsteigs und sah sich unschlüssig um, den Fotoapparat in der Hand, schließlich machte sie doch zwei oder drei Aufnahmen. Dann kamen die beiden Frauen zurück und stiegen wieder ein.
    »Dieses Haus sagt ja nun leider gar nichts aus«, meinte Barbara, »ich habe deshalb vorgeschlagen, dass du uns in Herrlingen dieses ehemalige Altersheim zeigst, zeitlich müsste das möglich sein...«
    Berndorf nickte, schaltete den Blinker ein und stieß aus der Einfahrt zurück.
    An diesem Nachmittag gab es keinen Stau auf der A 8, auch nicht am Albaufstieg, Berndorf fuhr zügig, achtete auch nicht auf das Gespräch der beiden Frauen im Fond, irgendwann fiel ihm auf, dass sie von ihm sprechen mussten. Er sei ehemaliger Kriminalpolizist, hörte er Barbara sagen, übernehme aber noch immer einzelne Aufträge; ja, sie seien seit Jahren zusammen, eine lange Geschichte! Dann beugte sich Barbara nach vorne und fragte: »Sie will wissen, von wem du den Auftrag hast, den Ring zurückzubringen.«
    »Sag ihr, dass auch das eine lange Geschichte ist«, antwortete er. »Außerdem soll sie ihn sich erst einmal anschauen. Am Ende ist es doch nicht der, den sie sucht.«
     
    Judith Kahn las weder Ha’aretz noch die Jerusalem Post , erst eine entfernte Verwandte hatte sie auf die Anzeige aufmerksam gemacht, in der Erben der Arztwitwe Franziska Kahn gesucht wurden. Sie hatte sich dann bei Berndorf gemeldet und als Enkelin von Franziska Kahn ausgewiesen. Außerdem hatte sie ihm die Abzüge von zwei Fotografien geschickt. Auf dem
einen Abzug war ein Ölgemälde wiedergegeben, das die Mutter der Franziska Kahn zeigte: eine sehr hochgeschlossene Dame mit weißem Teint und schwarzen Haaren und dunklen Augen, die an einer Halskette einen breiten Goldring trug; laut einer handschriftlichen Notiz war das Portrait im Jahr 1883 gemalt worden. Die zweite Fotografie zeigte Franziska Kahn selbst, also die Tochter der hochgeschlossenen Dame, und den Ring trug sie nicht um den Hals, sondern hielt ihn in der Hand, und zwar so, als solle nicht sie, sondern der Ring und die reliefartige Abbildung darauf fotografiert werden. Gut zu erkennen waren die beiden nackten Gestalten, die sich gegenüberstanden, werbend
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