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Bei Anruf - Angst

Bei Anruf - Angst

Titel: Bei Anruf - Angst
Autoren: Stefan Wolf
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zur Tanzschule
Hahmelbeyn ging. Ein Plakat im Schaukasten wies darauf hin. Ein gemaltes Paar
schwofte walzer-mäßig: er im Frack, sie im langen Abendkleid mit
Rückendekolletee wie von 1920. Über ihren Köpfen schwebten Noten — jedenfalls
schwarze Eier mit Stiel. Außerdem hing eine Preisliste aus für Anfänger-Kurse,
Kurse für Fortgeschrittene und für Paare zur Auffrischung. Musik war nicht mehr
zu hören. Bei Hahmelbeyn war Feierabend. Aus der Passage quollen etwa zwei Dutzend
Anfänger — alle knapp vor der Volljährigkeit. Die meisten Hand in Hand und
frischgesichtig von der paarweisen Bewegung. Nur einige männliche Anfänger
trotteten neben ihren Partnerinnen, als fänden sie Tanzen zum Kotzen.
    Die brauchen wir nicht zu fragen,
dachte Tim. Die sind nicht aus dem Viertel.
    Die Gruppen gingen aneinander
vorbei. Zwei Typen grinsten Gaby an. Dann waren TKKG allein in der Passage. Tim
sah sich um. Deprimierend! Die beiden Wohnmaschinen, die sich hier sechsstöckig
gegenüberstanden, hatten je zwei Eingänge. Hinzu kam das gesonderte Portal für
die Tanzschule. Überschlägig waren da 30 bis 40 Wohnungen. Allerdings kamen nur
die in Frage, die passagen-seitig lagen — zu denen also die Musik aus dem
Kippfenster der im Parterre befindlichen Tanzschule voll hinschallen konnte.
    Gaby hatte das sofort drauf. „Nur
die vorderen Wohnungen, nicht wahr?“
    Tim nickte und sah an den
Hausfronten hoch. Licht hinter nahezu allen Fenstern, mindestens ein
erleuchtetes Zimmer pro Wohnung.
    Karl sagte: „Die Hintergrund-Musik
beim Anruf der Vollwaise war wirklich sehr leise. So leise, dass es nur dir
aufgefallen ist.“ Er meinte Tim. „Das heißt, wir können uns also rechts wie
links erst mal auf die unteren Etagen beschränken. Macht je zwei Wohnungen pro
Stock straßenseitig. Ich seh da acht mietbare Behausungen auf uns zukommen, eh?“
    „Ganz meine Meinung“, nickte
Klößchen. „Außerdem möchte ich wissen, wie das mit dem Menschenschmuggel ist.
Warum es überhaupt Schleuser gibt. Man hört ja immer wieder von diesem Geschäft
mit der Hoffnung. Aber in Sozialkunde hatten wir’s noch nicht.“
    „Darüber sprechen wir nachher“,
sagte Tim. „Jetzt brauchen wir anderen Durchblick.“
    Er stand am ersten Eingang,
einer Milchglastür im Stahlrahmen, und studierte die Namensschilder neben den Klingelknöpfen:
U. Krämer, Eva u. Udo Vettleben, Kauperbusch, Lore Dingelein, Kuno Ivoritzki,
W. Maier...
    Er hielt inne. Hinter dem
Milchglas flammte Licht auf. Jemand hatte im Treppenhaus die
Drei-Minuten-Beleuchtung eingeschaltet. Dann sohlten auch schon schnelle
Schritte die Stufen herab. Ein Schatten hinter der Tür. Der Typ kam heraus,
blieb sofort stehen und blickte ebenso verwundert wie abwehrend. Er war älter
als TKKG, aber nicht über 17: ein schmalschultriger Schmächtling in ziemlich
modischem Outfit. Das Plateau seiner Haare war eingefärbt: blond wie
Möhrenkacke. Unten herum hatte er braunes Haar, das exakt geschnitten war.
Sicherlich ging er oft zum Frisör.
    „Wollt ihr rein?“ Er hielt die
Tür auf.
    „Danke!“, meinte Tim. „Wohnst
du hier?“
    Der Blonde nickte. „Ihr aber
nicht.“
    „Wir suchen jemanden. Wissen
nur nicht, ob er hier oder drüben wohnt. Name unbekannt. Jedenfalls ein junger
Mann, der seit kurzem ein junges Mädchen bei sich hat. Sie ist 14. Hast du ‘ne
Ahnung? Wir haben Grund zu der Annahme, dass er nicht in den oberen Etagen wohnt.“
    Der Blonde lachte. „Du fragst
ja wie ein Fahnder aus ‘nem Fernsehkrimi. Deine Freundin ist wohl bei einem
andern gelandet.“
    „Sie ist nicht meine Freundin.
Aber sie braucht Hilfe. Also, fällt dir was ein?“
    „Hier wohnen nur Familien. Nur
Papa, Mama und mindestens ein Kid. Wir... Äh! Meinst du vielleicht den Ivoritzki?
Das ist der einzige Single im Haus. Und hat ‘ne Vier-Zimmer-Wohnung. Ungerecht!
Was?“
    „Verschwendung.“ Tim grinste. „Hat
er ein Mädchen bei sich?“
    „Keine Ahnung. Ich seh den
selten. Hat ‘nen anderen Rhythmus als ich. Ich bin auf der Realschule. Jetzt
will ich ins Kino. Spätvorstellung: Heiße Bienen vom Mars. Tschüss!“
    Tim erwiderte nichts. Gaby,
Karl und Klößchen wünschten viel Spaß und der Spätfilm-Besucher zog ab. Tim
klingelte bereits bei Kuno Ivoritzki. Wenn die Anordnung der Klingelknöpfe
stimmte, wohnte er im ersten Obergeschoss links, also unmittelbar über der
Tanzschule. Das passte zusammen. Aber an Übungsabenden war es bis 21 Uhr sicherlich
nervend für ihn, denn die
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