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Haus der Löcher (German Edition)

Haus der Löcher (German Edition)

Titel: Haus der Löcher (German Edition)
Autoren: Nicholson Baker
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    Shandee findet Daves Arm
    Shandee bekam von ihrer Schwester ihr ganzes Make-up, weil die nach Guatemala ging. Abends verbrachte Shandee dann ungefähr zwei Stunden damit, Lippenstift auszuprobieren. Am nächsten Morgen ging sie mit ihrem Geologiekurs 101 in einen Steinbruch. Der Steinbruch hieß «Fels des Heils». Er war riesig, und man schlug dort Granit, vor allem für Grabsteine. Der Steinbruchführer war ganz süß, auch wenn seine Haare nicht gut kamen – er war vielleicht siebenundzwanzig. Trotzdem, ziemlich dolle süß, dachte sie. Sie standen am Rand einer Weite, die wie von einem anderen Stern aussah, und er sagte: «Hier ist so viel Granit, dass er noch viereinhalbtausend Jahre reicht.» Herr du meine Güte, dachte Shandee, das sind eine Menge Grabsteine. Sie trat von der Kante zurück, und in dem Moment sah sie hinter einem Stein eine Hand herausstehen.
    Während die anderen dem Führer zuhörten, ging sie zu der Hand. Die Hand steckte am Unterarm, und um dessen Ende war ein sauberes abgerissenes Stück Stoff gewickelt, das wohl am Rest des Arms gehangen hatte. Auf dem Stoff war kein Blut. Shandee zog die Hand heraus und befühlte sie. Sie war warm, die Finger bewegten sich ein wenig. Die Hand zeigte eindringlich auf ihre Tasche, also stopfte sie sie hinein, ging wieder zur Gruppe und hörte sich den Rest der Führung an.
    Zu Hause zog sie dann den Unterarm heraus und legte ihn aufs Bett. Er war kräftig, hatte empfindsame Finger, und an der Unterseite lief eine blaue Ader den Muskel entlang. Sie hob ihn hoch und flüsterte: «Arm, kannst du mich hören?»
    Als Antwort streichelte der Arm ihr mit zwei Fingern die Wange. Er war zärtlich.
    Shandee sagte: «Hast du’s bequem? Brauchst du etwas?» Der Arm machte eine Schreibgeste. Shandee fand einen Füller und reichte ihn ihm. Die Hand schrieb: «Bitte wickle den Lappen ab und gib mir zermanschtes Fischfutter in einer Elektrolytlösung.»
    «Wo?», fragte Shandee.
    «Fülle es in das kleine Loch mit dem grünen Rand», schrieb der Arm. Und dann: «Ich bin froh, dass du mich gefunden hast.»
    Sie wickelte das Tuch ab und sah, dass auf dem Arm eine Art Versorgungseinheit aus schwarzem Gummi steckte. Offenbar gab es auch Raum für eine Batterie, eine Stelle für die Abfallentsorgung und eine, wo Nährstoffe hineinkamen.
    Sie hatte eine Eingebung. «Bist du Italiener?»
    «Halb Italiener, halb Waliser», schrieb der Arm. «Man kennt mich als Daves Arm.»
    «Na, Daves Arm, freut mich sehr, dich kennenzulernen.» Sie gaben sich die Hand. Dann fiel ihr Bick auf die Uhr. «Oje. Kannst du dich eine Stunde hier gedulden?», sagte sie. «Ich habe jemandem versprochen, zu seiner Party zu kommen, und ich würde ihn nur sehr ungern kränken.»
    Daves Arm schrieb schnell etwas hin. «Gern, aber – ich möchte dir den Lippenstift auftragen», schrieb er.
    «Ist gut, versuch’s mal.» Shandee ergriff den Arm und hielt ihn so, dass die Hand vor ihrem Mund war. Er betastete den ganzen Bereich ihrer Lippen, erfühlte ihre genaue Form, dann trug er mit sehr feinen, fast vibrierenden Bewegungen den Lippenstift auf. Er war extrem rot, von einer Farbe namens Terranova.
    «Klasse», sagte Shandee. «Du bist gut. Und die Farbe ist auch toll.» Ihre Lippen sahen richtig sinnlich aus. «Danke, Daves Arm.»
    Er ließ die Hand ein wenig nicken und erinnerte Shandee, indem er den Kuli hob, daran, dass er etwas von dem Fischfutterbrei brauchte und dass seine Chemieabfälle abgezapft werden mussten. Sie ging mit ihm auf die Toilette und öffnete an der Kappe ein kleines Ventil. Ein kleines Rinnsal grauen Wassers lief heraus. Dann fütterte sie ihn mit ein wenig Fischfutterbrei, worauf er ganz erfrischt schien. Er bat sie, ihn aufs Fensterbrett zu legen, denn er hatte als Energiequelle ein Solarmodul. Sie tat es, dann ging sie auf die Party und tanzte und amüsierte sich prächtig, kehrte aber früh nach Hause zurück, weil sie das Gefühl hatte, einen neuen Freund zu haben, um den sie sich kümmern musste.
    Als sie zurückkam, war ihre Zimmergenossin Rianne da. Riannes Lippen waren sehr rot – wahrscheinlich hatte sie die neuen Lippenstifte ausprobiert –, und sie hielt Daves Arm. Das Handende steckte in ihrer Bluse, wo es mit einer ihrer Brüste offensichtlich etwas Zärtliches machte. Rasch zog Rianne es heraus. Wo sie auf dem Bett ausgestreckt lag, war ein Papierblock, auf dem alles Mögliche hastig hingeschrieben stand.
    «Dann hast du also meinen Arm
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