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Begraben

Begraben

Titel: Begraben
Autoren: Elena Sender
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früher bei Tonys Cocktails über die Ereignisse und natürlich über die Zukunft sprechen würden. Sie wollte Nino vorschlagen, bei ihr im Centre Dulac zu arbeiten. Cyrille beabsichtigte, die Behandlung mit Meseratrol und die gesamte Arbeitsweise des Zentrums genau zu überdenken, und dabei könnte sie dringend Unterstützung gebrauchen. Sie war sich sicher, dass der Krankenpfleger ihr Angebot annehmen und ihr helfen würde.
    Was Julien betraf … so musste er sich, ebenso wie sie selbst, seiner Verantwortung stellen.
    Sie knöpfte den Mantel zu und zog den Schal fester um den Hals. Es war nicht kalt, im Gegenteil, dennoch fröstelte sie.
    Das antike Eisentor stand offen. Ein kleiner Kiesweg schlängelte sich zu einem alten Haus, das von Glyzinien und vielen Bougainvilleen überwuchert war. Sie ging durch einen verwilderten Garten mit prächtigen Olivenbäumen und wunderschönen alten Rosenstöcken und vernahm plötzlich vertraute Klänge. Julien erwartete sie also bereits. Ihr Puls beschleunigte sich. Das Haus hatte seiner Großmutter gehört, und er war der alleinige Erbe. Die blaue Tür stand einen Spaltbreit offen, darüber hing eine bronzene Glocke, mit der man in früheren Zeiten die Familie zum Essen gerufen hatte. Cyrille zögerte kurz, doch dann stieß sie die Tür auf. Ihr erster Eindruck bestätigte sich. Tanguedia III, im Mai 1986 in New York aufgenommen. Der heitere, schwungvolle Tango wurde von einem Bandoneon-Ensemble gespielt. Sie hielt inne und lauschte den virtuosen und melancholischen Klängen Piazzollas. Ihr Herz war erfüllt von den widersprüchlichsten Gefühlen. Einerseits war sie froh, hier zu sein, andererseits hatte sie Angst vor dem, was sie gleich vielleicht tun würde. Die Musik verebbte. Sie betrat Juliens Haus.
    Als sie ihn das erste Mal in Sainte-Félicité auf seinem Krankenbett gesehen hatte, hatte sie sofort gespürt, dass er ihr näherstand als die anderen Patienten, und wusste, dass vom ersten Augenblick an eine gewisse Spannung in der Luft gelegen hatte. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, hatte sie ihre Befragung distanziert, aber einfühlsam durchgeführt. Doch beim Verlassen des Raums hatte ihr der Kittel am Körper geklebt, und in den folgenden Nächten hatte sie kein Auge zugetan. Bei diesem Gedanken stieg ihr die Röte in die Wangen.
    Das Zimmer, das sie jetzt betrat, sah völlig anders aus als sein Appartement in der Rue Gambetta. Hier konnte Cyrille durchatmen. Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie seit ihrer Abreise insgeheim befürchtet hatte, wieder auf eine düstere Katzen-Wohnung zu treffen. Aber nein, das Zimmer war lichtdurchflutet. An den breiten Fenstern standen Dutzende von Grünpflanzen, und Fotos von Meer, Bergen und Tieren lagen überall herum und waren noch nicht aufgehängt, da Julien gerade erst eingezogen war. Cyrille trat einen Schritt vor und sah zu einem weißen Ecksofa hinüber, das einer großen, grauen Katze als luxuriöses Lager diente, die sich das seidige Fell von der Sonne wärmen ließ. Sie ging auf die Katze zu und kraulte sie am Bauch. Das Tier räkelte sich genüsslich und öffnete verschlafen die schönen grünen Augen.
    Einen Moment lang genoss Cyrille erleichtert die Atmosphäre. Alles hier strahlte Ruhe und Frieden aus. Dennoch musste sie ihren ehemaligen Patienten mit seiner Verantwortung konfrontieren. Zu dieser Entscheidung war sie auf der Fahrt gekommen, doch nun spürte sie, dass ihre Entschlossenheit zusehends schwand.
    Sie folgte den traurigen und nostalgischen Klängen der Musik: Milonga del Ángel . Eine steinerne Treppe führte in das obere Stockwerk. Cyrille, deren Herz immer schneller schlug, stieg die Stufen empor. Vom Treppenabsatz gingen zwei Türen ab. Cyrille lauschte, die Musik kam von rechts. Zaghaft und ängstlich wie ein junges Mädchen vor ihrem ersten Rendezvous drückte sie die Klinke herunter.
    Julien trug das Haar kürzer, und er hatte eine neue Brille. Im rötlichen Licht der Dunkelkammer sah sie ihn im Profil. Contrabajisimo durchflutete den Raum, die Bandoneon-Klänge waren rasch und fordernd.
    Julien beobachtete, wie sich nach und nach die Konturen des Bildes im Entwicklerbad abzeichneten.
    »Komm ruhig näher …«
    Er hatte diese Worte so dahingesagt, als stünde sie schon die ganze Zeit neben ihm.
    Cyrille lockerte den Schal und trat ein paar Schritte auf ihn zu.
    »Sieh mal.«
    Die Züge einer alten Vietnamesin wurden sichtbar, die pergamentartige Haut, der offene Blick.
    »Das ist eine alte
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