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Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall
Autoren: Mary Nichols
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eine dunkle, aus der Stirn zurückgekämmte Perücke mit langen Locken an der Seite. Hinten dagegen wurde das Haar mit einem schmalen grauen Band zusammengehalten. In seinen dunklen Augen lag ein leicht spöttischer Ausdruck, der Lydia veranlasste, ihren Blick hastig abzuwenden.
    Dafür kam ihr nun seine bestickte Brokatweste mit einer Reihe schwerer Silberknöpfe zu Gesicht sowie ein fast bis zu seiner Taille herabreichendes Spitzenjabot. Seine langen Beine steckten in engen Kniehosen und seine kräftigen Waden in glänzenden Stiefeln. Als sie an dieser Stelle angelangt war, richtete Lydia ihre Aufmerksamkeit ein wenig verwirrt nun doch lieber auf die regennasse Straße, auf der sich schon eine Reihe von Pfützen gebildet hatten.
    “Ich hätte nie gedacht, dass mir so ein einfaches Gerät wie ein Regenschirm einmal so zustattenkommen würde”, sagte der junge Mann lächelnd. “Eigentlich wollte ich ihn heute gar nicht mitnehmen. Aber nun bin ich froh, dass ich es doch getan habe.”
    Lydia spürte den versteckten Sinn hinter seinen Worten und errötete. “Ganz gewiss, Sir. Ihr wäret sonst ziemlich nass geworden. Aber ich fürchte, Eure Kleider sind auch so schon recht feucht. Haltet bitte den Schirm lieber über Euch. Ich habe ja noch meinen Umhang.”
    “Ach, der Regen macht mir nichts aus. Ich bin daran gewöhnt. Wo ich herkomme, ist der Monsunregen tausendmal nasser.”
    Unwillkürlich musste Lydia lachen. “Nass ist doch nass. Wie kann ein Regen nasser sein als der andere?”
    “Oh, ich versichere Euch, das gibt es wirklich. Seid Ihr jemals in Indien gewesen? Nein, ich wette, Ihr kennt dieses Land noch nicht. Aber wenn Ihr es jemals besucht hättet, würdet Ihr wissen, was ich meine.”
    Indien, überlegte Lydia. Dann war der Fremde wahrscheinlich eine Art Nabob – reich geworden durch den Handel und dementsprechend anmaßend. Das Merkwürdige daran war nur, dass sie sich nicht abgestoßen fühlte, wie sie es eigentlich hätte sein müssen. Sie fühlte sich vielmehr so stark angezogen, als bestehe ein unsichtbares Band zwischen ihnen. “Ich würde schon gern einmal auf Reisen gehen”, erwiderte sie. “Aber Ihr habt recht, ich habe England noch nie verlassen.”
    “Ihr seid also noch nicht einmal in London gewesen?”
    “Ein Mal schon, vor langer Zeit. Doch seit …” Lydia hielt inne und fuhr dann rasch fort: “Doch seit meiner Kindheit nicht mehr.”
    Dem jungen Mann fiel die Wehmut in ihrer Stimme auf, und er fragte sich nach dem Grund dafür. Wieder musterte er die junge Dame eingehend. Sie war schlank und reichte ihm gerade bis zur Schulter. Und dennoch ging eine innere Kraft, eine feste Entschlossenheit von ihr aus. Bestimmt war sie kein sanftes Veilchen. In ihren haselnussbraunen Augen, die ihn unerschrocken angeblickt hatten, schimmerten goldene Pünktchen, wenn sie lächelte, gleich den Irrlichtern über dem nachtdunklen Moor. Ihr Haar war dicht und von einem herrlichen Rotbraun. Der einfache graue Umhang, den sie über ihrem Kleid trug, entsprach zwar nicht der Garderobe einer jungen Dame aus vermögendem Hause, war indes auch nicht ärmlich.
    “Ich hoffe, dass Euer Wunsch bald in Erfüllung geht, Mylady”, sagte der Fremde lächelnd.
    “Ich danke Euch. Aber ich habe keinen Anspruch auf den Titel Lady.”
    “Nun, so bleibt Ihr in meiner Erinnerung als das Mädchen ohne Namen.”
    Lydia überhörte diesen Versuch, ihren Namen zu erfahren, geflissentlich und erklärte stattdessen: “Ich glaube, ich kann mich jetzt hinauswagen, denn der Regen lässt nach.”
    “Müsst Ihr das wirklich? Ich fing gerade an, unseren Aufenthalt hier angenehm zu finden.”
    “Ich bin mit meiner Mutter in der Leihbibliothek verabredet. Sie wird schon auf mich warten.”
    “Dann gestattet mir wenigstens, Euch zu begleiten. Der Regen hat noch nicht völlig aufgehört, und Ihr werdet meinen Schirm brauchen.”
    “Es ist nur ein kurzer Weg, Sir. Ich möchte Euch keine Ungelegenheiten …”
    “Es ist ein Vergnügen für mich und keine Ungelegenheit”, fiel der Fremde ihr ins Wort und folgte ihr eiligst, den Schirm fürsorglich über sie haltend. “Kommt Ihr öfters nach Chelmsford?”
    “Nur gelegentlich, wenn ich etwas brauche, das ich bei uns im Dorf nicht bekomme.”
    “In welchem Dorf?”
    “Oh, es ist nur ein winziger Flecken, und Ihr werdet seinen Namen bestimmt noch nicht gehört haben.” Lydia war sich darüber im Klaren, dass der junge Mann versuchte, ihr den Hof zu machen, und dass sie
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