Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall
Autoren: Mary Nichols
Vom Netzwerk:
in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Lydia kam sich ausgeschlossen vor. Verletzt und ärgerlich kroch sie wieder ins Bett.
    Es war schon fast Mittagszeit, als die Mutter endlich im Wohnzimmer erschien, aber sie glich nun wieder der vertrauten Erscheinung. Lächelnd betrachtete sie die beiden Mädchen, die aus dem Wunsche heraus, sich mit einer nützlichen Arbeit zu beschäftigen, eifrig an den neuen Ballkleidern stichelten. “Lasst mich einmal sehen, was ihr geschafft habt.” Sie nahm Lydia den Rock, dessen Saum gekürzt werden musste, aus der Hand und musterte das Werk. “Sehr gut! Sehr gut!”, lobte sie, “obwohl ich nicht sicher bin, dass wir in der Lage sein werden teilzunehmen, nachdem der Earl …”
    “Oh, Mama, wir werden doch nicht absagen, nur weil er gestorben ist!”, jammerte Annabelle. “Er ist ja kein Verwandter, und wir sind nicht verpflichtet, um ihn zu trauern.”
    “Das ist richtig. Aber es kann sehr wohl sein, dass die Organisatoren den Ball gar nicht stattfinden lassen, weil der Earl einer der wichtigsten Geldgeber dafür war.”
    “Oh nein!” Es schien Lydia, als komme alles Ungemach, das ihnen widerfuhr, stets aus der Richtung des Herrenhauses.
    Nun, vielleicht wurde der Ball nicht gänzlich abgesagt, sondern nur aufgeschoben bis nach der Beerdigung. Dann konnte der Erbe Seiner Lordschaft entscheiden, ob das Siegesfest stattfinden sollte oder nicht. Der Erbe. Der neue Earl of Blackwater würde Ralph Latimer sein, obwohl wahrscheinlich niemand wusste, wo er sich zurzeit aufhielt.
    “Ich hörte von dem Kammerdiener des Earls, dass es keinen Kontakt mehr zu Ralph gegeben hat, seit … seit jenem Geschehnis”, berichtete die Mutter. “Ich dachte immer, dass Seine Lordschaft mit seinem Sohn in Briefwechsel stand und er deshalb seinen Aufenthaltsort kannte. Wenn dem aber so gewesen sein sollte, dann hat er sein Geheimnis mit ins Grab genommen, und seine Anwälte werden sich nun darum kümmern müssen.”
    “Wie ist denn Seine Lordschaft gestorben, Mama?” erkundigte sich Lydia. “Ich hörte, es sei ein Unfall gewesen.”
    “Er stürzte die Treppe hinunter.” Die Mutter schluckte, biss sich auf die Lippe und fuhr dann fort: “Der Doktor sagte, er habe sich dabei das Rückgrat gebrochen.”
    “Aber er war doch bei Bewusstsein? Er hat nach dir geschickt?”
    “Ja.”
    “Warum nach dir? Warum nicht nach seiner Frau?”
    “Sie war unpässlich und … Ach, das ist alles so schwierig. Seine Frau hat sich so verändert, seit Ralph das Haus verlassen hat. Ich fürchte, sie war nicht mehr recht bei Sinnen. Sie hat oft getobt, und manchmal soll sie ihren Mann sogar angegriffen haben. Ich glaube, sie … Ihr müsst mir schwören, zu niemandem ein Sterbenswörtchen darüber verlauten zu lassen! Ja?” Die Mädchen nickten schweigend. “Ich glaube, der Earl ist gestürzt, weil sie wieder einmal auf ihn losgegangen ist.”
    “Meinst du, sie hat ihn die Treppe hinuntergestoßen?”
    “Ich befürchte es.”
    “Die Arme!” Zum ersten Male spürte Lydia so etwas wie Sympathie für die Countess.
    “Ihr seht also, dass sie für Seine Lordschaft nicht von Nutzen sein konnte.”
    “Aber du konntest etwas für ihn tun?”
    “Ja. Uns verbindet … uns verbindet ein gemeinsames Schicksal. Wir haben beide durch einen grausamen Schlag unser Liebstes verloren …”
    “So siehst du es also? Wie kannst du nur so nachsichtig sein? Und wenn Ralph Latimer … ich meine, wenn der neue Earl nach Hause kommt, dann wirst du ihm wohl auch freundlich entgegentreten? Wirst knicksen und lächeln?”
    “Ich weiß es nicht”, erwiderte die Mutter müde. “Wir müssen es abwarten.”
    Da niemand wusste, ob der neue Earl von der Tragödie überhaupt in Kenntnis gesetzt wurde, konnte das Begräbnis nicht hinausgeschoben werden. Manche Leute im Ort glaubten gehört zu haben, er sei in den Tropen am Fieber gestorben. Wieder andere behaupteten, er habe als einfacher Soldat gedient und sei in einer Schlacht gefallen. Einige wenige nahmen zwar an, dass er noch am Leben sei, sich aber nie mehr in sein Elternhaus wagen würde. Und seine Anhänger sagten hinter vorgehaltener Hand, dass er die Fostyns sofort vor die Tür setzen werde, wenn er zurückkomme – und das sei nicht mehr, als sie verdienten.
    Am Tage vor der feierlichen Beisetzung ereignete sich eine zweite Tragödie. Die Countess entkam der eigens für sie eingestellten Aufsichtsperson und sprang aus einem Fenster des oberen Stockwerkes. Kummer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher