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Ballast oder Eva lernt fliegen

Ballast oder Eva lernt fliegen

Titel: Ballast oder Eva lernt fliegen
Autoren: Mona Jeuk
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wir sind nun endlich in der erzählten Gegenwart unserer eigentlichen Geschichte angelangt. Die Exposition der Vorgeschichte war unumgänglich, so viel steht fest, indes bin ich froh (und Ihnen mag es ebenso ergehen), dass wir das sperrige Plusquamperfekt nun verlassen dürfen, ein wahres Minenfeld für den Autor und wenig erquicklich für die Leser.
    Eva stand auf der Aussichtsplattform und vergewisserte sich, dass das Flugzeug ihres Sohnes glücklich vom Boden abhob. Mit einem Seufzer, gleichermaßen dem Trennungsschmerz wie der Erleichterung geschuldet, tupfte sie ein paar Tränen von ihren vorsorglich wasserfest geschminkten Augen und sagte Lebewohl: Ihrem Sohn und der Verantwortung für ihn, die nun endlich bei ihm selbst und, wie es sich gehörte, bei seinem Vater liegen sollte.
    Die Eva, die kurz darauf den Flughafen verließ und ihrem Wagen zustrebte, verschwendete keinen weiteren Gedanken an Christian, vergangene Zweisamkeit und drohende Vereinsamung. Sie konzentrierte sich ganz auf die mentalen Vorbereitungen für das Rendezvous, das noch am selben Abend auf sie wartete.
    Nach so langer Abstinenz mag dies ein wenig überstürzt erscheinen, doch sollten wir, so denke ich, Folgendes berücksichtigen: Drei lange Jahre, die Lehrjahre ihres Sohnes, hatte Eva Zeit gehabt, mit unverbindlichem Geplänkel, dezenten Flirts und intimer werdenden Gesprächen (bei einer Tasse Kaffee in der Kantine) die Schar der Bewerber zu sichten und die drei vielversprechendsten auszuwählen. In die engere Wahl kamen nur vorzeigbare Männer. Schön brauchten sie nicht zu sein, das war Eva ja schon selbst. Doch ihre Position bei der Geprahl AG musste unanfechtbar und gut dotiert sein, was sich dank der geradezu unglaublichen Indiskretion der Sekretärin des Personalchefs leicht überprüfen ließ, und ihr Interesse an Eva musste einer näheren Prüfung standhalten. Ihren charmantesten Bewunderer strich sie – und, das muss ich betonen: ohne jedes Bedauern – von der Liste, als sie erfuhr, dass er bereits zweimal geschieden war und für drei Kinder Unterhalt zu zahlen hatte. Zum Schluss blieben zwei langjährige Bewerber übrig, die Eva bereits mit einer gewissen Routine schöne Augen machten, obgleich oder vielleicht gerade weil auch sie nie über die Tasse Kaffee hinaus gelangt waren, und außer diesen noch einer, der es noch nicht einmal so weit gebracht hatte, da er noch neu im Betrieb war. Eva zog ihn überhaupt nur in Erwägung, weil er definitiv reich war, unverschämt gut aussah und sein Werben, im Unterschied zu dem der anderen, noch frisch und unverbraucht und daher unvergleichlich wirkungsvoller war.
    Als Eva ihren Sohn zum vorläufig letzten Mal umarmte, standen in ihrem digitalen Terminkalender drei Rendezvous, für jeden Anwärter eines, im Abstand von jeweils drei Tagen. Nummer Drei hatte sie, als den attraktivsten, auf den ersten Abend gelegt. Voller Vorfreude und in nostalgischen Erinnerungen schwelgend, trällerte Eva einen Hit aus den Siebzigern, während sie das Parkhaus des Flughafens verließ und ihrer Gymnastikmatte, ihrem Badezimmer und ihrem Kleiderschrank entgegenfuhr. Eva sang sonst fast nie. Wenn sie es doch einmal tat, dann war dies ein Zeichen, dass sie sich geradezu unbändig freute. Sie sang dann meist auch mit vollem Körper- und Energieeinsatz, doch da sie sich diesmal auf den Verkehr konzentrieren musste, blieb ABBA vom Schlimmsten verschont.

    Als Nummer Drei pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt eintraf und ihr mit flammenden Blicken einen Strauß tiefroter Rosen verehrte, hatte Eva ihr Großes Programm absolviert, das den ganz bedeutenden Anlässen vorbehalten war. Es gab da auch noch – jeweils fein säuberlich und in Listenform festgehalten – das Kleine Programm für Beruf und Alltag und das Mittlere für Schulfeste, Weihnachtsfeiern, Geburtstage und dergleichen. Nur eines war in Evas Leben nicht vorgesehen: ihr ungeschminktes Selbst. Nicht einmal an Tagen, wenn sie krank das Haus hüten musste, die nebenbei gesagt sehr selten waren, verzichtete Eva auf ihr KP, ihr Kleines Programm. Man wusste nie, was der Tag noch bereithielt, und Eva war nicht willens, irgendwelchen Schicksalsschlägen nackt gegenüberzutreten. So fühlte sie sich ohne Make-up: nackt.

    Das GP entsprach im Wesentlichen dem Mittleren, wurde aber noch durch diverse zeitintensive Wellness-Bestandteile ergänzt. Selbst zwanzig Minuten Meditation standen auf Evas GP-Liste. Meditieren hatte Eva bei der Volkshochschule gelernt.
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