Bahnen ziehen (German Edition)
den 100-Meter-Brust-Wettkampf vor, mit diesem neuen, glatten, seehundartigen Gefühl. Ich will ihn in 1:11:00 schwimmen.
Wenn ich mir zu Hause einen Wettkampf vorstelle, nehme ich die Stoppuhr mit ins Bett, lege mich auf den Bauch, das Gesicht im Kissen, das Kinn an die Brust gezogen, um eine Atemhöhle zu bilden. Ich drücke die Ellbogen in die Seiten, halte die Uhr in der rechten Hand. Ich atme, wie ich es beim Wettkampf tue, halte bei der Wende die Luft an, bis mir leicht schwindelig wird und sich ein Gefühl von milchiger Geschmeidigkeit, gefolgt von plötzlicher Rauheit, um mein Sichtfeld zusammenzieht. Ich nähere mich dem Ziel und drücke auf die Stoppuhr, wenn ich die gelbe Anschlagmatte berühre. Auf der Anzeige steht 1:13:50. Noch einmal, 1:14:09. Dann 1:09:67.
Gewöhnlich schlafe ich mit der Stoppuhr in der Hand ein, aber manchmal liegt die Uhr morgens auf meinem Krankenhausnachttisch, die Nylonschnur ordentlich darum gewickelt. Mein Vater kam irgendwann mit zwei Krankenhaustischen aufRollen nach Hause. Er hatte sie bei Crown Assets gefunden, einer Wochenendauktion von staatlichem Überschussmaterial und beschlagnahmten und verlorenen Gegenständen. Unser Haus war voll mit Dingen von Crown Assets: Bücher, ein Nasssauger, Beistelltische von Bombay Company, denen nur ein oder zwei Messingscharniere fehlten. Auch unser Dodge-Van aus Militärbeständen und die Plymouth Caravelle (vormals ein Polizeiwagen der Zivilstreife) stammten von Crown Assets. Die Caravelle war braun und bullig, doch sie schaffte über 250 Stundenkilometer. Hinten fehlten die Verschlussknöpfe an der Tür. Wenn mein Vater bei Familienausflügen die Türen automatisch verriegelte, fingen Derek und ich an, zu heulen und daran zu zerren wie eingesperrte Irre.
Die Platte des Krankenhaustischs lässt sich hochklappen, und darunter kommt eine flache Schublade mit einem kleinen oxidierten Spiegel zum Vorschein. Hier bewahre ich mein abschließbares Tagebuch und ein paar Kulis und Buntstifte auf. Wenn ich mein Zimmer aufräume, rolle ich den Tisch ans Fußende und lege ein leinenes Tischset von den Philippinen darauf. An der Innenseite meiner Schranktür hängt ein Poster von Alex Baumann in seiner Speedo-Badehose, braungebrannt und glattrasiert. Er war Fahnenträger der kanadischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1984, wo er im Einzel über 400 m und 200 m Lagen Gold gewann und in beiden Disziplinen einen neuen Rekord aufstellte. Ich weiß, dass er von seinem Trainer Sascha genannt wird und dass er einen Ohrring hat. Ich stelle mir vor, wie er mich küsst, während wir beide nur unsere Schwimmsachen tragen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie jemanden geküsst, nachdem ich die Gelegenheit mit einemSchwimmer namens Erich auf der Achterbahn im Freizeitpark Canada’s Wonderland verpatzt hatte. Ich musste zwei Jahre warten, bis sich die nächste Gelegenheit bot.
Auf dem Poster sieht Baumann wie ein strahlender Filmstar aus, der schöne Gute. Luke Skywalker. Dabei bin ich in Victor Davis verknallt. Han Solo. Ich habe ihn einmal in echt gesehen, bei einem großen Wettkampf, als ich vierzehn war. Ich erinnere mich an seinen riesigen, muskulösen Oberkörper und das dunkle lockige Haar. Es war, wie einen Löwen anzusehen, die Verkörperung reiner physischer Kraft, wobei etwas zugleich Zorniges wie Zurückhaltendes von ihm ausging.
Victor Davis wurde von seinem Vater in Guelph, Ontario, großgezogen und trainierte sein Leben lang mit einem Coach, Cliff Barry, einem kräftig gebauten ehemaligen Wasserball-Olympioniken mit leiser Stimme. Davis war unbestreitbar schön, stark, diszipliniert und berühmt für sein äußerst kompetitives Wesen. Vor den Wettkämpfen betrieb er in der Umkleidekabine psychologischen Terrorismus, indem er seine Gegner anstarrte, bis sie den Blick abwenden mussten. Auf dem Weg zum Startblock, mit einem Handtuch über dem Kopf, boxte er in die Luft und spuckte unter Umständen in die Nachbarbahn. Seinen berüchtigtsten Auftritt hatte er 1982 bei den Commonwealth Games, als er aus Wut über eine Staffel-Disqualifizierung direkt vor Queen Elizabeth gegen einen Plastikstuhl trat. Von allem, was Kanada zu bieten hat, kommt er John McEnroe am nächsten.
In einem Dokumentarfilm von 1983 mit dem Titel The Fast and the Furious werden Alex Baumann zu »the Fast«, der Schnelle, und Victor Davis zu »the Furious«, der Wütende, stilisiert.Als ich meinen alten Trainer Byron nach Davis und Baumann frage, rattert er ein
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