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Baby-Bingo

Baby-Bingo

Titel: Baby-Bingo
Autoren: Carla und Martin Moretti
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ohne Einwände auf das Gepäckband klettern, ein Stück mitfahren und wieder runterspringen. In Deutschland hätte das vermutlich einen Großeinsatz der Flughafenpolizei zur Folge.
    Komplette indische Haushalte werden da vom Rollband angeliefert. Nur unsere beiden bescheidenen Koffer nicht.
    Ähnelt dieses Warten nicht auf gewisse Weise auch dem Kinderwunsch? Man weiß nie, wann der Koffer kommt – ob als erster oder ganz zuletzt. Oder überhaupt nicht. Kaum in Indien, wird man schon philosophisch.
    Ich wollte einen Leihwagen nehmen, aber Carla hat für unsere Fahrt nach Agra einen Fahrer engagiert. Der empfängt uns am Ausgang mit einem selbst gebastelten Pappschild: Aalok . So heißt er. Ich merke mir den Namen mit der Eselsbrücke: »Aal essen? In Indien o.k.«
    Aalok macht uns gleich auf den ersten Hundert Metern klar, dass es eine gute Idee war, das Steuer einem Einheimischen zu überlassen. Zusätzlich zum gewöhnungsbedürftigen Linksverkehr finden alle Fahrmanöver im Zentimeterabstand statt. Und das bei durchaus ambitioniertem Tempo. Ich weiß nicht, warum gerade Deutschland überproportional viele Formel-1-Fahrer hervorbringt. Wenn man den Verkehr hier sieht, müssten eigentlich die Inder die Formel 1 dominieren. Schließ lich trainieren sie täglich ihre Reaktionsfähigkeit, indem so unterschiedlich schnelle Fahrzeuge wie die neuesten Geländewagen, Motorrikschas, Fahrradrikschas und Kamelkarren aufeinandertreffen.
    »Eine Kuh!«, ruft Carla plötzlich.
    Nun ist eine Kuh für uns, die wir in Bayern leben, nichts Ungewöhnliches. Man sieht dort viele. Zum Bespiel, wenn man von München nach Garmisch-Partenkirchen fährt. Mit dem Unterschied, dass die Kühe dort neben und nicht mitten auf der Straße stehen.
    Für Aalok und die anderen Inder scheint das aber ganz normal zu sein. Sie umfahren die Kuh in respektvollem Abstand, ohne sich auch nur im Ansatz darüber aufzuregen.
    Freunde, die bereits in Indien waren, hatten uns auf extreme Eindrücke vorbereitet. Aber wir dachten beide nicht, dass irgendwo wirklich noch so eine Parallelwelt existieren würde. Staunend wie zwei kleine Kinder sitzen wir hinten im Toyota Qualis, schließen hin und wieder mal die Augen, wenn ein Lastwagenmonster bedrohlich auf unserer Straßenseite auf uns zurast, und sind gebannt von den Tausenden Momentaufnahmen, die wir im Vorbeifahren machen. Ein Trommelfeuer auf die sinnliche Wahrnehmung.
    Bereits in den ersten Minuten unserer Reise fallen die unglaublichen Gegensätze auf. In den zentralen Vierteln von Neu Delhi waren noch Glaspaläste, Fast-Food-Läden, Autohäuser, schicke Boutiquen und junge Geschäftsleute mit iPads zu sehen. Nun nähern wir uns mit jedem Kilometer, den wir uns von der Metropole entfernen, ein Stückchen weiter einem anderen Zeitalter. Mit Babys, die direkt neben der Straße, nur mit Windeln bekleidet, inmitten von Müllbergen krabbeln. Während hinkende Hunde und dürre Hühner um sie herum im Dreck nach Futter suchen. Riesige Fabriken, die aussehen wie Industriedenkmäler. Verrostet, giftig qualmend. Und davor Gruppen von Männern. Tagelöhner, wie uns Aalok in Englisch erklärt. Sie warten darauf, ausgewählt zu werden und Arbeit zu bekommen.
    Es dominiert die Farbe Grau. Nur hin und wieder durchbrochen von bunt schillernden Stoffen, Früchten und Gewürzbergen, wenn wir an kleinen Märkten vorbeikommen.
    Sobald unser Jeep vom Verkehr zum Halten gezwungen ist, klopfen Kinder ans Fenster, in Kleidern, die Lumpen gleichen. Mit großen, traurigen Augen starren sie uns an, die Hände zum Betteln ausgestreckt.
    Carla ist tief bewegt, als sie all diese Kinder sieht. Sie nimmt meine Hand. Und ich weiß, dass sie dieselben Gedanken hat. Was zählt unser Kinderwunsch gegen all diese Schicksale? Gegen Millionen von Menschen, die täglich ums Überleben kämpfen? Wir sind erst zwei Stunden hier, aber Indien rückt wieder brutal die Relationen zurecht. Wir sind geschockt, wir sind fasziniert, wir sind nachdenklich.
    Seit fünf Minuten sitzen Carla und ich Maharaj Nanak gegenüber. Auf großen Kissen am Boden, im Schneidersitz. Als wir den schmucklosen, kahlen Raum betraten, hat er uns mit einem freundlichen » Namaste « begrüßt. Die traditionelle hinduistische Grußform, bei der beide Handflächen in Herznähe zusammengepresst und der Kopf leicht nach vorne geneigt wird. Aber darüber hinaus hat der über 70-jährige Guru noch kein Wort gesagt. Er sieht uns nur an, intensiv. Keine Musik im Hintergrund.
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