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Ausgeloescht

Ausgeloescht

Titel: Ausgeloescht
Autoren: Cody Mcfadyen
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gut auf. Wenn du
jemals
einem erzählst, was ich mit dir gemacht habe, oder von den drei Dollar, oder wenn du mir das Geld nicht gibst, komme ich eines Nachts zu euch nach Hause, bringe zuerst deine Eltern um und dann dich. Und es wird lange dauern und verdammt wehtun.«
    O'Brian hörte diese Worte, und die Zeit stand still. Etwas Seltsames geschah: Alles wurde deutlicher und unwirklich zugleich. O'Brian sah die Gegenwart und die Zukunft und wurde von einer Erregung erfasst, die alle Furcht wegfegte:
    Die Sonne steht am wolkenlosen Himmel. Das Pflaster auf dem Bürgersteig ist warm, aber nicht heiß, und er ist nur fünf Minuten von zu Hause entfernt. Gleich wird er durch die Tür gehen, wird sich eine Cola und eins von Moms Plätzchen mit in sein Zimmer nehmen. Er wird sich die Tennisschuhe von den Füßen treten und das neuste Batman-Comic lesen. Später wird Mom ihn zum Essen rufen (wahrscheinlich Hackbraten). Dad wird wieder nicht dabei sein, denn er ist unterwegs und verkauft Sachen, und das bedeutet, er und Mom würden DIE FÄUSTE nicht spüren (so nannte O'Brian seinen Vater insgeheim). Vielleicht schauen sie sich später zusammen »Happy Days« an, und Mom wird vielleicht sogar lachen.
    Martin O'Brian dachte an das alles, und für einen Augenblick hörte es sich albern an, was sein Angreifer soeben gesagt hatte. Umbringen? Blödsinn. Sie waren erst zehn! Die Sonne schien, und ...
    Der Junge starrte ihn an. Und als O'Brian in die Augen seines Bezwingers blickte, wurde ihn etwas bewusst - mit einer Klarheit, wie er es nie zuvor erlebt hatte.
    O'Brian war nicht besonders schlau, aber klug genug, dass er wusste, was er von sich selbst zu halten hatte. Er tat anderen weh, beklaute sie, terrorisierte sie. Er brachte sie zum Schluchzen und zum Flehen, und er genoss es. Es verschaffte ihm Erleichterung. DIE FÄUSTE konnten ihm nicht erklären, warum er sich manchmal so
gut
fühlte, wenn andere weinten. Er war eine miese Ratte, doch er akzeptierte seine Verderbtheit genauso wie seine Unfähigkeit, etwas daran zu ändern.
    Doch die Augen, die nun auf ihn hinunterstarrten, gehörten jemandem, der auf einer völlig anderen Stufe des Bösen stand. Es waren leere Augen, in denen weder Trauer noch Freude zu sehen war, keine unvergossenen Tränen und kein Lachen, das auf einen Anlass wartete. Das war kein Junge, der nach Hause ging, um Batman zu lesen, und seine Augen hatten noch nie eine Folge von »Happy Days« gesehen. Diese Augen musterten ihn nun von oben bis unten, warteten mit unerbittlicher Festigkeit.
    Und in diesem Moment wusste O'Brian, dass es keine Rolle spielte, ob die Sonne schien und ob sie erst zehn waren. Er wusste, dass jedes Wort des Jungen eine Drohung gewesen war, die er wahrmachen würde.
    »Ich hab verstanden«, flüsterte O'Brian.
    Die Augen starrten ihn an, suchten nach der Wahrheit, während O'Brian jämmerlich zu schluchzen anfing und sich nichts anderes auf der Welt wünschte, als dass sein Bezwinger ihm glaubte. Irgendwann nickte der Junge und warf den abgebrochenen Besenstiel zur Seite.
    »Erste Zahlung diesen Freitag«, sagte er.
    Dann drehte er sich um und ging.
    Der Junge kam zufrieden nach Hause, doch er pfiff nicht oder lächelte vor sich hin. Wozu auch? Es brachte nichts; es war völlig sinnlos. Doch der Junge war beruhigt: Er hatte sein Problem gelöst und sogar vorgesorgt. Denn was, wenn sein Vater demnächst mehr wollte als einen Dollar? Dieser Gedanke war dem Jungen in der Nacht zuvor gekommen, als er stumm die Schmerzen ertrug und nachdachte. Er war zu dem Schluss gelangt, dass es sehr gut möglich war: Wenn das Leben einen Dollar wollte, konnten es dann nicht auch zwei sein? Oder drei?
    Das Einfachste war, von denen zu nehmen, die hatten. Das aber warf ein weiteres Problem auf: Wie konnte man vermeiden, dass man geschnappt wurde?
    Alles hatte auf Martin O'Brian als Lösung des Problems hingedeutet: Er würde die Arbeit tun und den Ärger mit der Polizei kriegen, wenn es dazu käme. Und wenn O'Brian den Bullen von einem kleineren Jungen erzählte, der ihn, den gefürchteten Schläger, erpresste - wer würde ihm glauben?
    Der Rest war eine Rechenaufgabe. Wie viel Schmerzen, wie viel Angst brachten wie viel Sicherheit? Menschliches Kalkül war die einfachste Mathematik überhaupt, wenn man den Bogen raus hatte. Und der Junge hatte ihn raus, das hatte er an diesem Tag erfahren.
     
    Nicht alles Böse ist Zufall. Manches wächst in einem finsteren Keller unter einer finsteren Sonne
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