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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Autoren: José Carreras
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1975. Zwar war mir bewusst, dass ich alles geben musste, doch konnte ich nicht einschätzen, ob das für ein so sachkundiges und anspruchsvolles Publikum genügen würde. Ich war ein junger Tenor, der im Vorjahr an drei großen Häusern jeweils zum ersten Mal aufgetreten war, nämlich an der Wiener Staatsoper als Herzog von Mantua in Rigoletto, im Londoner Opernhaus Covent Garden als Alfredo in La Traviata und an der New Yorker Metropolitan Opera als Cavaradossi in Tosca. Doch die Scala war etwas ganz Besonderes, damals noch mehr als heute. Als mir die Musiker bei der ersten
Orchesterprobe nach der ersten Arie applaudierten, fühlte ich mich sicherer. Ich erinnere mich, dass das Publikum bei meinem Debüt am Ende der Auftrittsarie in Beifall ausbrach, und sogar das verwünschte »del par« gelang mir. Meine Nervosität legte sich nach und nach beinahe unmerklich, und ich gewann langsam den Eindruck, dass das mein großer Abend werden könnte. Das Mailänder Publikum ist nicht leicht zu gewinnen und verhält sich bei Rollen, die für italienische Tenöre geschrieben zu sein scheinen, gewöhnlich besonders kritisch, doch ging bei mir glücklicherweise alles glatt. Kurz vor dem letzten Bild, als sich Riccardo darauf freut, seine geliebte Amelia wiederzusehen, erfüllten mich die Bravorufe aus dem Saal mit tiefer Befriedigung. Sie waren sogar so laut, dass ich einige Augenblicke lang das Orchester nicht hören konnte. Mein Auftritt an diesem Abend war ein Erfolg, wie ich ihn nie zuvor erlebt hatte. Die Kritiker waren ebenso begeistert wie das Publikum, und ehrlich gesagt hat mich überwältigt, was sie über mich schrieben. Sonderbarerweise erwähnten sie sogar das Kostüm, das mir Di Stefano für die Vorstellung überlassen hatte, in dem Fachleute wie Publikum eine Art Glücksbringer zu sehen schienen. Nach diesem Triumph eröffneten sich mir weitere Möglichkeiten, die mich zu neuen Horizonten führten. Beispielsweise ergab sich die Möglichkeit, mit einer der größten musikalischen Legenden des 20. Jahrhunderts zusammenzuarbeiten, nämlich dem Dirigenten Herbert von Karajan.

    Der Triumph seines ersten Auftritts an der Scala wiederholte sich an den fünf Abenden, an denen er in jenem Februar dort sang. Karajans Mitarbeiter André Mattoni und Peter Busse, die sich unter dem Premierenpublikum befunden hatten, waren von der Leistung des jungen katalanischen Tenors so tief beeindruckt, dass sie den Maestro gleich anschließend anriefen, um ihm das mitzuteilen und ihm nahezulegen, er solle sich, wenn er eine Möglichkeit dazu habe, Carreras selbst anhören. Da Karajan seinen Mitarbeitern blind vertraute, fragte einige Monate später sein Manager Emil Jucker bei Carlos Caballé, der Carreras geschäftlich vertrat,
an, ob dieser für April 1976 freie Termine habe, da Karajan ihn gern für den Tenorpart in Verdis Requiem bei den Salzburger Osterfestspielen engagieren würde.

    Dieses Angebot stimmte mich euphorisch. Nichts hätte mich nach meinem Debüt an der Mailänder Scala glücklicher machen können als die Möglichkeit, unter Herbert von Karajan zu singen. Dabei ging es nicht nur um das Requiem , ich sollte auch einige Monate später in Verdis Don Carlos die Titelrolle übernehmen. Auch das war wieder wie ein Traum. Als ich den Maestro zwanzig Minuten vor der Orchesterprobe für das Requiem begrüßen konnte, beeindruckte mich der intensive Blick seiner leuchtend blauen Augen. »Ich hoffe, dass Sie Ihren Part vollständig beherrschen«, sagte er. Schüchtern bestätigte ich das. Rechts von mir standen die Sopranistin Montserrat Caballé und die Mezzosopranistin Fiorenza Cossotto, links der andere männliche Solist, der Bariton José van Dam, hinter uns der Chor und zwischen den vollzähligen Berliner Philharmonikern und uns, kaum einen Meter von mir entfernt, Karajan – und in Verdis Requiem muss der Tenor als Erster singen! Das Lampenfieber am Tag meines Debüts in Mailand war nichts verglichen mit dem, was ich damals in Salzburg empfand. Die Anspannung war unerträglich, zumal ich nicht genau wusste, was die von mir förmlich vergötterte lebende Legende Herbert von Karajan, dessen Persönlichkeit mich zutiefst beeindruckte, von mir erwartete.

    Karajan hatte Carreras am Vortag in dessen Hotel angerufen, ihn in Salzburg willkommen geheißen, ihm Einzelheiten über einige Stellen der Partitur gesagt und ihn für den nächsten Morgen um zehn Uhr zur Probe bestellt. Sicherheitshalber hatte Carreras sich die Zeitangabe
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