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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
Autoren: José Carreras
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Bühne darstellen mochte. Durch Giuseppe de Tomasi, der 1970 Verdis Nabucco am Liceu inszeniert hatte, wie auch Lluís Andreu, den damaligen stellvertretenden Direktor des Liceu, ermuntert, nahm ich im Jahre 1971 am Internationalen Gesangswettbewerb von Busseto teil. Andreu hat mich sogar dorthin begleitet, um mich moralisch zu unterstützen.
    Nicht nur hatte ich das Glück, diesen für junge Opernsänger ausgeschriebenen Wettbewerb zu gewinnen, irgendjemand hatte auch Di Stefano empfohlen, sich die Endausscheidung anzuhören, da dabei ein junger Tenor aus Barcelona singen werde, dessen Stimme der seinen zu Anfang seiner Opernlaufbahn unglaublich ähnlich sei. Als uns die Organisatoren vor dem letzten Tag mitteilten,
der berühmte Sänger sei nicht nur selbst anwesend, sondern werde uns auch begrüßen und einige Worte an uns richten, steigerte sich meine Nervosität zu einer fürchterlichen Angst – es waren zu viele Empfindungen für so wenige Stunden. Der Zufall wollte es, dass ich die Arie des Riccardo sang, die ich von Di Stefano im Liceu gehört hatte und mit der ich vier Jahre später in der Mailänder Scala debütieren sollte, wo er, mein Idol, im Parkett sitzen würde. Ich war ganz aufgeregt, als ich ihn aus seinem eindrucksvollen Rolls-Royce steigen sah, gab ihm zitternd die Hand, und er sprach mir Mut zu. Er hatte keinerlei Starallüren und war weder herablassend noch eingebildet – ganz im Gegenteil: Er wirkte ausgesprochen liebenswürdig und umgänglich. Ich erinnere mich, dass er mir sagte, mit meiner Stimme und meiner Art zu singen könne ich es weit bringen, und hinzufügte: »Tieni duro.« Damit meinte er, ich solle unbedingt auf das achten, was immer unerlässlich sein würde, nämlich beharrlich bleiben und nicht lockerlassen.

    Zwei Tage vor der Premiere von Ein Maskenball an der Scala fand die Generalprobe in Anwesenheit Di Stefanos statt. Die Stelle »del par« gelang, und Carreras brachte den ersten Akt zu seiner vollen Zufriedenheit hinter sich. Doch dies Hochgefühl schwand bald, als es mit einem Mal an die Tür seiner Garderobe klopfte und er Pippo mit bedenklicher Miene davor stehen sah. Er fürchtete, die Stelle, für die ihm Di Stefano keinen Rat hatte geben wollen, habe diesem nicht gefallen. In Wahrheit aber ging es um etwas gänzlich anderes: »José, du kannst unmöglich in diesem Kostüm als Riccardo an der Scala debütieren. Hast du nicht gemerkt, dass du darin aussiehst wie das Michelin-Männchen?« Carreras erklärte, es sei das Kostüm, das er von der Gewandmeisterei des Hauses bekommen habe, weil man dort kein anderes habe. Es sei für Giorgio Merighi angefertigt worden, der eine Handbreit größer war als er und hundert Kilo wog. Obwohl sich der Theaterschneider bemüht hatte, es hier und da ein wenig abzunähen und die Hosenbeine zu kürzen, sah der junge Sänger darin zum Erbarmen aus. Aber was ließ sich machen? Di Stefano erklärte, er wisse Rat. »Komm morgen zu
mir, dann wollen wir sehen, ob wir was Passendes finden.« Als sich Carreras dort einstellte, führte ihn Pippo sogleich in sein Ankleidezimmer, wo sich Carreras ein spektakulärer Anblick bot: Vor ihm hingen fünfzig (oder waren es sechzig?) Kostüme für alle Rollen, die der sizilianische Tenor im Lauf seiner langen Opernkarriere verkörpert hatte. Als kenne er die Reihenfolge auswendig, in der sie angeordnet waren, ging er in eine Ecke und holte mit triumphierender Geste den Kleiderbügel mit dem Kostüm Riccardos hervor. »Das ziehst du morgen an.« Carreras musterte das Kostüm, das sich in erstklassigem Zustand befand, und brachte lediglich heraus: »Danke, vielen Dank, Maestro.«

    Es hatte mich mit großer Befriedigung erfüllt, dass mir der Star, den ich von klein auf verehrte, beim Gesangswettbewerb von Busseto Mut gemacht hatte, und als er mir vier Jahre später auch noch das Kostüm überließ, in dem er 1957 an der Scala an der Seite von Maria Callas gesungen hatte, war ich sprachlos. Während ich damals in Busseto unter anderem mit einer der Arien aus Ein Maskenball gewonnen hatte, sollte ich jetzt in Mailand die vollständige Rolle im besten aller Opernhäuser singen. Ich konnte nicht glauben, wie mir geschah. Dort singen zu dürfen war das Ziel meiner Träume gewesen, und das noch dazu an der Seite Montserrat Caballés tun zu können, war einfach wunderbar. Dadurch, dass mich Di Stefano unter seine Fittiche nahm, war ich im siebten Himmel.
    Ich werde das Datum nie vergessen: Es war der 13. Februar
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