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Aus reiner Notwehr

Aus reiner Notwehr

Titel: Aus reiner Notwehr
Autoren: Karen Young
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Stellungnahme von Ward Lincoln ausfiel. Wenn er der Meinung war, sie hätte die Anwendung von Streptokinase nicht verzögern dürfen, und dies dem Verwaltungsrat auch mitteilte, konnte sie die Oberarztstelle in den Wind schreiben.
    Immer noch stand sie unter dem Eindruck jener teuflischen Nachtschicht. Nach Carmellos Exitus war sie geradezu in das Ärztezimmer geflüchtet, aber der Schaden war nicht mehr gutzumachen. Der Ausdruck auf den Gesichtern ihrer Teamkollegen – Neugier, Abscheu, Mitleid – erschien ihr wie ein Blatt Tarot-Karten, das ihr Schicksal weissagte.
    Sie schnaubte missmutig und fragte sich, was ihre Kollegen in der Notaufnahme wohl sagen würden, wenn sie wüssten, wie oft sie in jüngster Zeit am Ende ihrer Nerven gewesen war. Hoffentlich würden sie es nie erfahren. Dann holte sie tief Luft und klopfte forsch an Dr. Winslows Tür.
    Der Leiter der Verwaltung des St. Luke Hospital begrüßte sie stehend, bot ihr dann mit einer Handbewegung den Stuhl vor seinem Schreibtisch an, setzte sich und schaute einige Zeit angestrengt auf einen vor ihm liegenden linierten Block mit ein paar Notizen. Schließlich faltete er die Hände über dem Papier, verschränkte die Finger, schaute auf und sah sie eindringlich an.
    “Dr. Madison, ich komme gerade aus einer Besprechung des Verwaltungsrates. Leider waren Sie der Gegenstand unserer Diskussion.”
    Sie rang sich ein Lächeln ab. “Ich will hoffen, dass ich nichts Negatives aus dem Wort ‘leider’ ableiten muss”, sagte sie.
    “Sie hatten einige persönliche Probleme in letzter Zeit. Soweit mir bekannt ist, sind Sie erst seit Kurzem geschieden.”
    “Ja, aber …”
    “Tut mir leid, das alles.” Er nickte ernst. “Fünf Jahre in der Unfallchirurgie, auch das hinterlässt Spuren”, sagte er, nahm die Hände zur Seite und blickte auf seine Notizen.
    “Es gibt Momente, da wünschte ich, ich wäre Rechnungsprüfer oder so etwas.” Erneut bemühte sie sich, dem Gespräch eine humorvollere Note zu verleihen, aber Winslow schien diesen schwachen Versuch nicht komisch zu finden. Er lächelte nicht einmal. Es wurde ihr unbehaglich zumute. “Das meine ich natürlich nicht ernst.”
    Er hob ein Blatt des Schreibblocks, als wolle er etwas überprüfen, und ließ es dann wieder sinken. “Freitagnacht scheint ein solcher Moment gewesen zu sein, wenn der mir vorliegende Bericht den Tatsachen entspricht.”
    “Ja, wir haben drei Patienten nacheinander verloren. Es war … kompliziert.” Ohne Zweifel hatte sie sich Freitagnacht unprofessionell verhalten. Weinen und unkontrolliertes Zittern waren unakzeptable Reaktionen in Situationen, wo es um Leben und Tod ging. Der Gedanke daran ließ sie immer noch zusammenzucken.
    Winslow betrachtete wieder seine Aufzeichnungen. “Der Junge war bereits bei Einlieferung in kritischem Zustand.”
    “Ein sinnloser Zwischenfall mit einer Handfeuerwaffe.”
    “Ja, sicher. Tragisch.”
    “Es hat mich sehr mitgenommen, dass wir ihn nicht retten konnten”, sagte Kate. Sie hatte den Verdacht, dass Winslow bereits Einzelheiten ihrer emotionalen Reaktion von Jean Sharpe erfahren hatte. Da konnte sie es auch gleich zugeben. “Es ist immer schlimm, wenn ein Kind stirbt. Aber seine Verletzung …”
    “Ja. Niemand hätte ihn retten können. Oder die misshandelte Frau. Sinnlos. Absolut sinnlos.” Er löste seine Finger aus der Verschränkung und lehnte sich zurück. “Aber der Grund, warum ich Sie hergebeten habe, ist Joseph Carmello.”
    “Sie haben mit Ward Lincoln gesprochen?”
    “Ja. Der Verwaltungsrat wollte seinen persönlichen Bericht hören.”
    Kate beugte sich vor und reichte ihm das Kuvert mit ihrer Stellungnahme. “Meine Sicht des Vorfalls steht in dem Bericht in diesem Umschlag. Mr. Carmello suchte uns auf mit starken Schmerzen in der Brust. Er …”
    “Ja, Dr. Lincolns Stellungnahme und die der diensthabenden Stationsschwester liegen mir vor.”
    Kate lehnte sich wieder zurück. Ihr Mut begann zu sinken. “Jean Sharpe.”
    Er nahm ihren Umschlag und schob ihn ungeöffnet in einen Aktenordner. “Wie ich höre, machen Sie sich in letzter Zeit Sorgen um Ihre Mutter.” Er rückte seine Brille zurecht und fuhr mit dem Finger über die Zeilen auf seinem Notizblock. “Sie lebt in … Louisiana?”
    “Ja. In einem Vorort von New Orleans. Aber woher wissen Sie …?”
    “Woher wir wissen, dass es Ihrer Mutter nicht so gut geht? So etwas spricht sich herum, Dr. Madison, wenn Menschen auf engem Raum
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