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Aufgedirndlt

Aufgedirndlt

Titel: Aufgedirndlt
Autoren: Jörg Steinleitner
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Vinyl-Schallplatten und CDs. Auch ein Keyboard mit Verstärker fand sich an einer Wand.
    »Und Bernhard hat wirklich nicht gesagt, wohin er gezogen ist?«, fragte Anne erschüttert.
    Die Studentin schüttelte den Kopf: »Nö.«
    »Wie hat er auf dich gewirkt, war er depressiv?«
    »Nö, gar nicht. Eher gut drauf.«
    »Gut drauf?«, wiederholte Anne fassungslos. »Was hat er gesagt, wohin ihr seine Post schicken sollt?«
    »Hat er nichts zu gesagt.«
    Anne konnte es nicht glauben: »Und eine Telefonnummer? Hat er irgendeine Telefonnummer hinterlassen?«
    »Nö«, meinte Bernhards Ex-Mitbewohnerin, die allmählich ungeduldig wurde. »Aber der hat doch ’n Handy. Versuch’s halt da mal.«
    »Was meinst du denn, was ich seit Tagen mache?«, fragte Anne, jetzt richtig wütend.
    »Du, es tut mir wirklich leid«, meinte die Studentin und wirkte überhaupt nicht so, als würde sie irgendetwas bedauern. »Aber ich muss jetzt in die Uni.«
    Anne schaute nachdenklich aus dem Fenster, hinunter zu dem Spielplatz, auf dem sie mit Bernhard und ihrer Tochter Lisa viele Nachmittage verbracht hatte. Die Mitbewohnerin schien wirklich keine Zeit zu haben, denn jetzt sagte sie: »Also, falls er sich meldet, rufe ich dich gleich an, okay? – Und ich sag’s auch den anderen hier in der WG.«
    So ohnmächtig, wie Anne sich fühlte, während sie die blank polierten Holztreppen des Altbaus hinunterstieg, hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.
    Im Auto, auf dem Rückweg an den See, brach Anne innerlich zusammen. Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie konnte es nicht fassen. Was tun Menschen, die einander lieben, sich nur alles an? Oder liebte Bernhard sie vielleicht gar nicht mehr? Natürlich hing sein Verschwinden mit seiner Krankheit zusammen. Oder war ihm etwas zugestoßen? Musste Anne die Polizei verständigen? Ein absurder Gedanke. Außerdem wusste sie, was ihre Kollegen sagen würden: Dass alles nach einem geordneten Umzug aussehe. Dass nichts auf ein Verbrechen hindeute. Dass jeder Mensch das Recht habe, aus seinem Leben zu verschwinden, wenn ihm danach sei. Und dass kein Anhaltspunkt dafür bestehe, dass Bernhard in Gefahr sei. Eine Anzeige bei der Polizei konnte sie also vergessen.
    Zurück am See, holte sie Lisa ab, die sie für den Nachmittag bei einer ihrer Schulfreundinnen untergebracht hatte, und fuhr mit ihr nach Hause.
    Lisa sah sofort, dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimmte: »Hast du geweint, Mama?«
    »Wieso?«, fragte Anne.
    »Deine Augen sind so rot«, entgegnete Lisa leise.
    »Ja, hab’ ich.« Die Antwort kostete Anne Mut. Es war gar nicht so leicht, vor seinem Kind Schwäche zu zeigen.
    »Wegen Bernhard?«, fragte ihre Tochter nach einer kurzen Pause.
    »Ja«, sagte Anne knapp, und Lisa spürte, dass sie jetzt nicht weiterbohren durfte.
    Zu Hause, nachdem sie gemeinsam den Tisch gedeckt hatten und sich gerade den noch dampfenden Wiener Würstchen mit Ketchup widmeten, fragte Anne: »Lisa, würde es dir etwas ausmachen, wenn du ab jetzt nach der Schule in einen Hort gehen würdest, wo du etwas zum Mittagessen bekommst und danach deine Hausaufgaben machst? Weil Bernhard dich, also jedenfalls zurzeit, nicht abholen kann.«
    »Muss das wirklich sein?«, fragte die Siebenjährige in einem Ton, der für Anne eindeutig nach Pubertät klang.
    Anne dachte laut nach: »Du könntest am Nachmittag auch von Frau Kastner, der Mutter von meinem Kollegen Sepp, betreut werden. Aber sie ist eine alte Frau und …« Anne zögerte. »Und außerdem ist Sepp …«
    Lisa sah sie an und lachte keck, als sie ergänzte: »… in dich verknallt?«
    Auch Anne musste lachen. »Ist er das?«
    »Das merkt doch jeder«, antwortete Lisa aufgeregt. »Das merkt man doch, wenn jemand in einen verknallt ist! Aber du bist nicht in ihn verknallt, oder?«, erkundigte sich Lisa nun, offensichtlich begeistert von diesem Gesprächsthema.
    »Überhaupt nicht«, sagte Anne trocken.
    »Ich will am Nachmittag nicht zu dem seiner Mutter«, meinte Lisa energisch. »Lieber in den Hort.«
    »Kommen’S einmal rein«, bat Nonnenmacher seine Mitarbeiterin einige Tage nach Annes Gespräch mit der Tochter und hielt ihr die Tür zu seinem Büro auf. »Mir müssen was bereden.«
    Der Ton verhieß nichts Gutes. Wollte er ihr die Leitung der Scheichsbewachung nun doch wieder entziehen? War ihr ein Fehler unterlaufen?
    Der Dienststellenleiter bot ihr einen Kaffee an und bat sie, Platz zu nehmen. So offiziell benahm er sich sonst nie. Auf dem Weg zum
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