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Auferstehung 1. Band

Auferstehung 1. Band

Titel: Auferstehung 1. Band
Autoren: Leo N. Tolstoi
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muß mich befreien. Ich muß alle diese lügnerischen Beziehungen abbrechen, sowohl mit den Kortschagins,mit Marie Wassiljewna und allen andern ... ja, entfliehen will ich und in Frieden aufatmen. Ins Ausland will ich gehen, nach Rom und mich mit Malerei beschäftigen.«
    Doch sogleich kamen ihm wieder die Zweifel über sein Talent in den Sinn.
    »Ah bah, was thut das; die Hauptsache ist, daß ich in Frieden aufatme. Ich werde zuerst nach Konstantinopel und dann nach Rom gehen. Sobald ich mit dem Schwurgerichtshof fertig bin und die Angelegenheit mit dem Advokaten geregelt habe, werde ich abreisen.«
    Wieder erstand vor ihm das Bild der Gefangenen mit ihren schwarzen, etwas schielenden Augen. Wie sie bei den letzten Worten, die sie gesprochen, geweint hatte! Mit heftiger Bewegung warf Nechludoff die Cigarette fort, die er sich eben angezündet hatte, steckte sich eine andere an, und begann im Salon auf- und abzugehen. Wieder sah er die Minuten vor sich, die er mit Katuscha verlebt; er sah die Szene in dem kleinen Zimmer, die sinnliche Leidenschaft, die ihn fortgerissen und die Enttäuschung, die er empfunden, als seine Begierde befriedigt war. Wieder sah er das weiße Kleid und die rote Schleife vor sich, und wieder durchlebte er die heilige Messe.
    »Ja, ich habe sie geliebt, sie habe ich wahrhaft rein und schön in jener Nacht geliebt, und auch vor jener Nacht habe ich sie schon geliebt. Wie liebte ich sie, als ich bei meinen Tanten wohnte und an meiner Dissertation schrieb.«
    Nechludoff sah sich wieder, wie er einst gewesen war. Er fühlte sich von einem Duft von Frische, Jugend und Lebensfreude durchdrungen und die Traurigkeit, die ihn jetzt niederdrückte, wurde dadurch noch vermehrt.
    Wie sollte er sich von seinem Verhältnis mit Maria Wassiljewna befreien, wie sollte er dem Manne dieser Frau und ihren Kindern von neuem ins Auge blicken, wie sollte er seine Beziehungen zu Missy abbrechen, wie den Widerspruch lösen, der zwischen der Thatsache lag, die Ungerechtigkeit des Grundeigentums ausgesprochen und doch eine Besitzung ausgebeutet zu haben, deren Einnahmen zum Leben er dringend brauchte? Wie sollte er die gegen Katuscha begangene Schuld tilgen? Trotzdem konnten die Dinge nicht so bleiben, wie sie waren.
    »Ich kann doch,« sagte sich Nechludoff, »eine Frau nicht im Stich lassen, die ich geliebt habe, und mich darauf beschränken, einen Advokaten zu bezahlen, der sie der Zwangsarbeit entreißen soll, die sie übrigens gar nicht verdient hat. Meine Schuld mit Geld zu tilgen, heißt dieselbe Schuld, die ich begangen, als ich Katuscha mit einem Hundertrubelschein abfinden wollte, auf's neue wiederholen.«
    Wieder sah er die Minute vor sich, als er im Hausflur seiner Tanten Katuscha das Geld in die Hand gesteckt hatte und entflohen war.
    »Ach, dieses Geld!« sagte er sich mit demselben Gemisch vor Schreck und Scham, das er während jener Minute empfunden. »Eine Frau lieben, sich ihre Liebe zu erobern, sie verführen und ihr einen Hundertrubelschein dazulassen! Aber das ist ja das Werk eines Elenden, und dieser Elende bin ich gewesen! Ist es denn möglich, bin ich wirklich solch ein Elender?«
    »Gewiß,« antwortete ihm eine Stimme in seinem Innern, »dein Verhältnis mit Marie Wassiljewna, deine Freundschaft mit ihrem Gatten, ist das alles nicht das Werk eines Elenden?«
    »Und dein Verhalten bei der Erbschaft deiner Mutter, die Art, wie du aus einem Vermögen Nutzen ziehst, das du selbst für unmoralisch erklärt hast? Dieses ganze unnütze und unsaubere Leben? und vor allem dein Benehmen gegen Katuscha? Jawohl, du bist ein Elender! Wie die andern dich beurteilen, thut nichts zur Sache, du kannst die andern betrügen, aber nicht dich selbst.«
    Jetzt begriff Nechludoff, daß er die Abneigung, die er seit einiger Zeit und ganz besonders an diesem Abend gegen die Menschen, gegen den alten Fürsten, gegen Sophie Wassiljewna, gegen Missy, ihre Gouvernante und ihren Diener empfand, in Wirklichkeit nur gegen sich selbst empfand. Und seltsamerweise hatte das Geständnis seiner Niedrigkeit, so peinlich es ihm auch war, doch etwas Beruhigendes und Tröstendes für ihn!
    Schon mehrmals hatte er in seinem Leben eine solche »Gewissensreinigung«, wie er es nannte, vorgenommen. So nannte er nämlich die moralischen Krisen, bei welchen er gleichsam eine Verlangsamung und manchmal sogar einen Stillstand des inneren Lebens fühlte und sichentschloß, den Schmutz zu entfernen, der sich in seiner Seele angesammelt
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