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Auferstehung 1. Band

Auferstehung 1. Band

Titel: Auferstehung 1. Band
Autoren: Leo N. Tolstoi
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ich meine, man fühlt, daß, man selbst nicht das Recht hat, die Fehler anderer zu beurteilen.«
    »Sehr richtig,« rief die alte Dame in einem Tone, der durchblicken ließ, wie sehr ihr die treffende Bemerkung Nechludoffs aufgefallen war, denn sie hatte die Gewohnheit, ihren Bekannten stets zu schmeicheln.
    »Nun, und wie steht's mit Ihrem Gemälde?« fuhr sie dann fort. »Sie wissen, es interessiert mich ungeheuer. Wenn ich kräftiger wäre, hätte ich es mir schon längst einmal bei Ihnen angesehen.«
    »Ich habe es vollständig aufgegeben,« versetzte Nechludoff, dem die Falschheit ihrer Schmeicheleien heute ebensoauffiel, als ihr sorgsam verstecktes Alter. Und er mochte sich noch so sehr bemühen, liebenswürdig zu sein, alle seine Anstrengungen blieben vergeblich.
    »Aber das ist ja ein Verbrechen! Wissen Sie, daß selbst Repin mir gesagt hat, unser Freund besitze wirkliches Talent?« sagte sie, sich zu Kolossoff wendend und auf Nechludoff deutend.
    »Wie schämt sie sich nur nicht, so zu lügen,« dachte Nechludoff.
    Als die alte Dame indessen bemerkt hatte, daß Nechludoff nicht bei Laune war, und man nicht hoffen durfte, mit ihm angenehm zu plaudern, wandte sie sich wieder zu Kolossoff und fragte ihn nach seiner Meinung über ein neues Stück, das eben aufgeführt worden war.
    Kolossoff beurteilte es sehr hart und benutzte die Gelegenheit, seine Ideen über die Kunst zum besten zu geben. Die Fürstin Sophie Wassiljewna zeigte sich wie stets von der Richtigkeit seiner Beobachtungen betroffen; wenn sie es einmal wagte, den Verfasser des Stückes zu verteidigen, so geschah das nur, um sich im nächsten Augenblick für besiegt zu erklären oder einen Ausweg zu finden.
    Nechludoff betrachtete abwechselnd die alte Dame und Kolossoff und hörte ihnen zu; er entdeckte zunächst, daß diese beiden Personen mit dem Stücke, von dem sie sprachen, nichts zu thun hatten, daß, sie auch mit sich nichts zu thun hatten, und daß ihre Unterhaltung nur einfach ein körperliches Bedürfnis befriedigte, das Bedürfnis, die Verdauung zu fördern, indem sie die Muskeln der Zunge und der Kehle bewegten. Er bemerkte dann, daß Kolossoff, der Branntwein, Wein, Kaffee und Likör getrunken, ein wenig berauscht war, nicht nach Art der Leute, die nicht ans Trinken gewöhnt sind, sondern nach Art solcher, die regelmäßig trinken. Kolossoff faselte nicht etwa und sprach keine Dummheiten, befand sich aber in einem ungewöhnlichen Zustande der Erregung und Selbstzufriedenheit. Drittens bemerkte Nechludoff, daß die alte Dame selbst bei der lebhaftesten Unterhaltung nicht aufhörte, unruhige Blicke nach dem Fenster zu werfen, durch welches jetzt ein schräger Strahl der untergehenden Sonne hereinbrach, der die Runzeln ihres Gesichtes allzu deutlich sehen lassen konnte.
    »Wie sehr Sie recht haben!« antwortete sie auf eine Bemerkung Kolossoffs und drückte dabei auf einen elektrischen Knopf.
    Kurz darauf erhob sich der Arzt und verließ, ohne etwas zu sagen, wie ein richtiger Hausfreund das Zimmer. Nechludoff sah, daß Sophie Wassiljewna ihm mit den Augen folgte, während sie die Unterhaltung mit ihm fortsetzte. »Philipp,« sagte sie zu dem schönen Diener, der auf das Klingeln hereintrat, »lassen Sie gefälligst den Vorhang herunter.«
    »Ja, Sie haben recht, es fehlt der Sache an Mysticismus, und ohne Mysticismus giebt es keine Poesie,« fuhr sie fort, sich an Kolossoff wendend, während ihre schwarzen Augen den Bewegungen des Dieners folgten, der mit dem Herablassen des Vorhanges beschäftigt war.
    »Der Mysticismus und die Poesie sind einander notwendig, nicht wahr? Mysticismus ohne Poesie ist Aberglaube, und Poesie ohne Mysticismus ist Prosa!«
    Plötzlich aber unterbrach sie sich in ihrem Vortrag.
    »Aber nicht doch, Philipp, ich meine ja den andern Vorhang!« Dann sank sie, von der Anstrengung, die sie diese Worte gekostet, gleichsam erschöpft, zurück, zündete sich aber, sofort, um sich zu beruhigen, eine parfümierte Cigarette an, die sie mit ihrer mit Ringen überladenen Hand an die Lippen führte.
    Der kräftige und elegante Diener neigte, gleichsam bereuend, ein wenig den Kopf. Doch Nechludoff glaubte in seinen Augen ein Aufblitzen zu bemerken, das deutlich besagte:
    »Der Teufel hole dich, du alte Närrin, mit deinen Launen!«
    Dann begann Philipp die Befehle der gebrechlichen und ätherischen Fürstin Sophie Wassiljewna ehrerbietig zu erfüllen.
    »Was Darwin betrifft,« fuhr nun Kolossoff, sich auf seinem Tabouret hin-
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