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Auferstehung 1. Band

Auferstehung 1. Band

Titel: Auferstehung 1. Band
Autoren: Leo N. Tolstoi
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Kriminalgeschichte, der Roman einer unschuldig zu Zwangsarbeit Verurteilten, und man kann sagen, daß Tolstoi, der Siebzigjährige, sich mit diesem Werke selbst übertroffen hat und daß die »Auferstehung« sogar »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« in den Schatten stellt. Trotz aller Einfachheit des Stils hat er es verstanden, eine an dramatischen Scenen unendlich reiche Handlung zu erfinden oder vielmehr nicht zu erfinden, denn seine Heldin ist eine lebende Figur und ihre Geschichte leider nur zu wahr, und selbst Alexander Dumas und Eugène Sue, diese Meister der »spannenden Effekte«, haben nichts Interessanteres und Packenderes geboten, als dieses so unendlich einfache und natürliche Werk. Alle Figuren leben, sie sind wirklich gesehene Menschen, keine ins Uebermäßige vergrößerte Edelgestalten oder titanenhaften Schurken, wie sie der Verfasser des »Monte Christo« und auch Victor Hugo in seinem »Glöckner von Notre Dame« schufen. Hier haben wir Typen vor uns, die uns jeden Tag auf der Straße begegnen, die uns gerade darum so ergreifen und rühren, weil ihre Schicksale, ihre Leiden und Freuden uns menschlich nahe gehen, weil wir sie verstehen und begreifen, wie sie der Dichter verstanden und begriffen hat. Mit diesem Werke hat sich Tolstoi – unabhängig von seinen früheren Schriften – ein unvergängliches Denkmal in der Litteraturgeschichte geschaffen, und hätte er nichts weiter als die »Auferstehung« verfaßt, es würde doch auf ihn das Wort des Dichters passen:
    »Es wird die Spur von seinen Erdentagen
nicht in Aeonen untergehen«
    Der Uebersetzer

Erster Teil

Erstes Kapitel
    Vergeblich bemühten sich einige hunderttausend Menschen, die auf kleinem Raum vereinigt waren, die Erde zu verstümmeln, auf der sie lebten; umsonst erdrückten sie die Erde unter Steinen, damit nichts aufkeimen konnte; umsonst rissen sie das kleinste Grashälmchen aus; umsonst verpesteten sie die Luft mit Petroleum und Steinkohle; umsonst beschnitten sie die Bäume; umsonst jagten sie die Tiere und Vögel fort; der Frühling war, selbst in der Stadt, immer noch der Frühling. Die Sonne strahlte; das Gras begann wie neubelebt wieder zu wachsen, nicht nur auf dem Rasen des Boulevards, sondern auch zwischen den Straßenrinnsteinen; die Birken, Pappeln und Maulbeerbäume entfalteten ihre feuchten und duftenden Blätter; die Linden zeigten ihre dicken, fast schon platzendenKnospen; die Krähen, Sperlinge und Tauben arbeiteten lustig an ihren Nestern; die Bienen und Fliegen summten an den Wänden und freuten, sich, daß die gute warme Sonne wiedergekehrt war. Alles war lustig, die Pflanzen, die Insekten, die Vögel, die Kinder. Nur die Menschen fuhren fort, sich und andere zu quälen und zu betrügen. Nur die Menschen meinten, nicht dieser Frühlingsmorgen, nicht diese himmlische Weltenschönheit, die zur Freude aller lebenden Wesen geschaffen war und sie alle zum Frieden, zur Eintracht und Zärtlichkeit zurückführen sollte, wäre wichtig und heilig, nein, wichtig und heilig wäre nur das, was sie selbst ersonnen, um sich gegenseitig zu quälen und zu betrügen.
    So wurde es auch in dem Bureau des Gouvernementsgefängnisses nicht für wichtig und heilig erachtet, daß die Freude und Wonne des Frühlings den Menschen beschieden war, sondern daß die Beamten dieses Bureaus am vorigen Abend ein mit einem Siegel verschlossenes, am Kopfe mit vielen Nummern versehenes Blatt erhalten hatten, das sie anwies, an demselben Morgen des 28. April 9 Uhr drei Angeklagte, zwei Frauen und einen Mann, jeden getrennt, nach dem Justizgebäude zu bringen, und zwar behufs ihrer Aburteilung. Dieser Anweisung zufolge trat am 28. April um 8 Uhr morgens ein alter Wärter in den düsteren und stinkenden Korridor der Frauenabteilung. Sofort eilte ihm die Aufseherin der Abteilung, ein Geschöpf von kränklichem Aussehen, das eine graue Nachtjacke und einen schwarzen Rock trug, entgegen und sagte:
    »Sie wollen die Maslow holen?«
    Dann ging sie mit dem Wärter auf eine der zahlreichen, auf den Korridor führenden Thüren zu. Der Wärter steckte mit, lautem Klirren einen dicken Schlüssel in die Thür, die beim Oeffnen einen noch gräßlicheren Gestank aus dem Gange entströmen ließ und rief dann:
    »Maslow! Nach dem Justizgebäude!«
    Damit schloß er die Thür, blieb unbeweglich stehen und wartete auf die Frau, die er gerufen hatte.
    Einige Schritte weiter, auf dem Gefängnishofe, konnte man eine reinere und belebendere Luft atmen, die der
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