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Auf die Ohren

Auf die Ohren

Titel: Auf die Ohren
Autoren: Jochen Till
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verarbeiten. Jedenfalls bitte ich Sie, vom Verhalten unseres sehr, sehr kranken, ehemaligen Direktors nicht auf den Rest des Kollegiums zu schließen. Ich verspreche Ihnen, dass so etwas nie, nie wieder vorkommen wird.« Sie atmet zweimal tief durch und blickt in meine Richtung. »Herr Kleinschmidt«, sagt sie, »Ihnen und Ihren Eltern gegenüber kann ich nur unser tiefstes Bedauern über diesen … für uns mehr als peinlichen Vorfall aussprechen. Ich habe bereits veranlasst, dass Ihr Zeugnis neu geschrieben wird, der Kollege Töpfer ist gerade dabei. Sie erhalten es dann am Ende der Zeremonie. Bis dahin, würde ich sagen, machen wir einfach weiter. Clarissa Martens, bitte kommen Sie zu mir nach vorne.«
    Clarissa steht auf, wirft mir einen Handkuss zu und kämpft sich durch die Stuhlreihen auf die Bühne.
    Mein Gott, sie sieht wirklich fantastisch aus in diesem Kleid! Das ist meine Freundin da vorne, das hübscheste und klügste Mädchen der Welt!
    »Dass du nach dieser Aktion überhaupt noch lächeln kannst«, flüstert meine Mutter mir zu. »Hut ab, mein Junge.«
    »Ach, weißt du«, sage ich grinsend, »wenn man in der degenerierten Unterschicht aufgewachsen und so schlecht erzogen worden ist, kann einen so schnell nichts erschüttern.«
    Meine Mutter lacht etwas zu laut auf, einige Leute drehen sich zu ihr um.
    »Was denn?«, sagt sie. »Sie haben es doch vorhin gehört, ich bin eben asozial!«
    Die gesamte Aula fängt an zu lachen.
    »Ruhe hier, sonst gibt’s was aufs Maul!«, ruft mein Vater und das Gelächter wird noch lauter.
    Ja, manchmal können selbst Eltern ein bisschen Rock ’n’ Roll sein. Und gerade in solchen Situationen bin ich wahnsinnig stolz darauf, von diesen beiden verzogen worden zu sein.

15.
    »Mama, hast du meine schwarzen Chucks gesehen?«, rufe ich aus meinem Zimmer heraus.
    »Sind in der Waschmaschine!«, schallt es aus der Küche zurück.
    »Was?! Bist du wahnsinnig?! Die brauche ich doch für den Auftritt!«
    »Aber der ist doch erst morgen Abend! Bis dahin sind sie längst trocken!«
    »Aber darum geht es doch gar nicht! Ich kann doch nicht mit frisch gewaschenen Chucks auftreten! Chucks müssen immer ein bisschen abgewetzt und schmuddelig aussehen!«
    Ist doch so. Nichts ist schlimmer als nagelneue Chucks. Die sind so schrecklich sauber und haben noch keine Löcher und die Streifen an der Seite der Sohle lösen sich noch nicht ab, das sieht einfach scheiße aus. Und meine sind leider noch nicht so alt, da ist kein einziges Loch drin, und wenn sie jetzt gewaschen werden, sehen sie aus wie neu, verdammt.
    »Aber die sieht doch sowieso niemand, wenn du hinter deinem Schlagzeug sitzt!«, erwidert meine Mutter.
    Okay, zugegeben, da hat sie irgendwie Recht, Punkt für sie. Aber den hole ich mir sofort zurück.
    »Aber vorher und hinterher, da sieht man sie schon!«, rufe ich. »Und was soll denn der Sony-Typ von mir denken, wenn ich da mit sauberen Chucks rumlaufe?«
    »Der soll denken, dass du eine ordentliche Mutter hast, die sogar die verdreckten Schuhe ihres Sohns wäscht!«
    Ja, super. Das ist genau die Art von Information, mit der ein zukünftiger Rockstar bei seiner Plattenfirma Eindruck schinden will. Würden Sie mich bitte reich und berühmt machen? Um meine Schuhe müssen Sie sich dann auch nicht kümmern, die wäscht meine Mama. Nicht umsonst erwähnen echte Rockstars ihre Mütter nur sehr selten, das zerstört doch das ganze Image.
    »Kann ja wohl nicht so schwer sein, ein paar Schuhe dreckig zu machen, das kriegst du doch sonst auch hin!«, ruft meine Mutter. »Dann läufst du eben vorher noch mal durch irgendein Blumenbeet, wenn das so wichtig ist! Aber nicht durch unseres!«
    Hm, das muss ich dann ja wohl. Obwohl das nicht dasselbe ist – Chucks müssen von allein dreckig werden, sie müssen sich den Dreck quasi verdient haben, nur dann sehen sie wirklich gut aus.
    »Okay, mach ich!«, rufe ich noch zurück, bevor ich die Tür schließe.
    Ich stelle mich vor mein Bett, auf dem ich alles ausgebreitet habe, was ich für den Auftritt morgen brauche. Wenn dann die Chucks noch dreckig sind, ist alles komplett.
    Die weißen Band-T-Shirts sind sehr geil geworden, das schwarze von Clarissa natürlich auch, das gefällt mir sogar noch einen Tick besser, aber egal. Da ich meine schwarze Jeans nicht so oft anziehe, ist sie kaum ausgewaschen und somit noch ordentlich schwarz. Den Nietengürtel sieht man zwar kaum, wenn das T-Shirt drüberhängt, der gehört aber trotzdem dazu.
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