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Auf die Ohren

Auf die Ohren

Titel: Auf die Ohren
Autoren: Jochen Till
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mich das aber wirklich und ich helfe sogar in der Obdachlosenküche, wenn Clarissa nicht dabei ist.
    Ohne Grund wird zugehauen.
    Alte Männer, Kinder, Frauen.
    Leute, die danebenstehen,
    tun, als würden sie nichts sehen.
    Ich war ein bisschen skeptisch, als ich den Jungs diesen Text zum ersten Mal zeigte. Schließlich bezeichneten und verstanden wir uns eigentlich als Funpunk-Band – und spaßig ist Herzen aus Deutschland nun wirklich nicht. Zu meiner Erleichterung war besonders Christopher aber sofort Feuer und Flamme. Er entwickelte zufällig gerade selbst einen Song, bei dem er unsicher war, ob er zu uns passen würde – ein bisschen härter, düsterer als unsere älteren Sachen. Er spielte ihn an, Clarissa stieg kurz später mit einer absolut genialen Gesangslinie ein und mir lief sofort ein kalter Schauer über den Rücken. Den anderen erging es wohl ähnlich, denn wir mussten nicht einmal abstimmen, ob wir den Song ins Programm aufnehmen. Was jetzt aber nicht heißt, dass ich nur noch ernste Texte schreibe.
    Jeden Tag gibt’s Schlägereien,
    hört man kleine Kinder schreien,
    hört man eine Frau, die weint,
    und ihren Mann, der’s nicht so meint.
    Das ist jetzt nicht einfach so dahingetextet und -gesungen – wir haben so etwas wirklich quasi hautnah miterlebt, Clarissa und ich. An Silvester, auf einer Party. Wenn ich daran denke, kann ich es immer noch nicht richtig fassen, das war knüppelhart. Um kurz nach zwölf standen alle draußen, die übliche Anstoß- und Böller-Arie, gute Laune, prächtige Stimmung – bis plötzlich direkt neben uns ein Typ anfing, auf seine Freundin einzuschlagen. Ich meine, so richtig, mit der Faust ins Gesicht, als würde er sich mit einem Mann prügeln. Und den Kerl kannten wir auch noch, er ist bei uns auf der Schule, im selben Jahrgang. Das Mädchen war mindestens zwei Jahre jünger als er und hatte nicht die geringste Chance. Beim zweiten Schlag sackte sie zu Boden, und er fing sofort an, auf sie einzutreten – wie sich später herausstellte mit den nagelneuen Stiefeln, die sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Das Ganze spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab. Während ich fassungslos erstarrt dastand und mein Gehirn noch damit beschäftigt war, das nie zuvor Gesehene und niemals für möglich Gehaltene zu verarbeiten, stürzte sich Clarissa bereits auf ihn. Aber auch sie hatte keine Chance gegen diesen Schrank von einem Kerl. Er wischte sie einfach mit einer Armbewegung zur Seite, als wäre sie eine lästige Fliege, und trat munter weiter auf seine Freundin ein. Clarissa krachte gegen mich, ich konnte sie gerade noch abfangen, sonst wäre sie mit voller Wucht auf den Boden geknallt. Währenddessen stürzten sich zum Glück bereits drei andere Jungs auf den Schläger und zerrten ihn von seinem Opfer weg. Abgeregt hat er sich deshalb allerdings noch lang nicht, er wollte immer wieder auf seine Freundin los.
    Als schließlich irgendjemand damit drohte, die Polizei anzurufen, ist er endlich abgehauen, und wir konnten uns um das Mädchen kümmern. Ihr Gesicht war ziemlich ramponiert, ihre Lippe blutete und dem linken Auge konnte man beim Anschwellen zugucken, aber zu unserem Entsetzen schien sie das alles relativ gelassen zu sehen. In lockerem Plauderton erzählte sie uns, dass ihr Herzblatt sie regelmäßig verdrosch, sonst aber eigentlich ein ganz Lieber war.
    Ich weiß bis heute nicht, was mich an diesem Abend mehr entsetzt hat – die locker aus dem Handgelenk geschüttelte Brutalität dieses Mistkerls oder die offensichtlich grenzenlose Dummheit/Naivität/Beschränktheit seiner Freundin. Die beiden sind immer noch ein Paar, wir haben sie neulich erst zusammen gesehen, unfassbar. Na ja, wenigstens haben sie zwei Textzeilen zu diesem Song beigesteuert.
    Wieder volle Konzentration auf die Bridge und ab in den Refrain. Zwei Takte Gitarrensolo und noch mal Refrain, mit dem letzten Wort endet der Song abrupt, perfekt.
    »Weltklasse!«, sagt Steffen und streckt mir einen Daumen entgegen. »Das Lied ist ja mal so was von geil! Damit sollten wir anfangen.«
    »Nein, aufhören«, erwidert Christopher. »Das letzte Lied muss immer ein Kracher sein. Mit dem letzten Lied gehen die Leute nach Hause, das bleibt in Erinnerung.«
    »Ich dachte, wir spielen Zu spät als letztes Lied«, wirft Robbie ein. »Wegen der Stimmung, weil das jeder kennt und mitsingen kann.«
    »Nein, Zu spät fällt komplett flach«, erklärt Christopher. »Das ist ein Jungslied. Clarissa kann ja
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