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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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über die Dreharbeiten berichtete. »Herb«, sagte er, immer noch mit Shakespeare-Akzent, »ich hoffe für dich, daß es wichtig ist.«
    Er wußte, daß es sich um einen echten Notfall, eine Oscarnominierung oder ein phantastisches Angebot handeln mußte, wenn ihn sein Agent bei den Dreharbeiten anrief. Aber für den Oscar war er dieses Jahr bereits nominiert worden, und seine Rollen suchte er sich seit ewigen Zeiten selbst aus. Seine Finger umklammerten das Gerät fester, während er darauf wartete, daß das transatlantische Rauschen aufhörte.
    »… Zeitung heute morgen, und da war sie…«, hörte er.
    »Was?« brüllte er. Die Techniker und Darsteller um ihn herum hatte er völlig vergessen. »Ich verstehe kein Wort!«
    Herbs Stimme drang klar an sein Ohr. »Da ist ein Bild von deiner Frau in der L.A. Times, auf Seite drei«, sagte er. »Die Polizei hat sie aufgelesen. Sie weiß nicht mehr, wie sie heißt.«
    »Herr im Himmel.« Sein Puls raste. »Was ist passiert? Ist alles in Ordnung mit ihr?«
    »Ich habe es eben erst gelesen«, antwortete Herb. »Auf dem Bild sieht sie ganz okay aus. Ich wollte dich gleich anrufen.«
    Er seufzte ins Telefon. »Unternimm nichts. Ich bin…« – er hielt inne und rechnete kurz nach - »morgen früh um sechs da.« Plötzlich klang seine Stimme rauh. »Ich will der erste sein, den sie sieht«, sagte er.
    Er schaltete den Apparat aus, ohne sich zu verabschieden, und begann Jennifer mit Anweisungen zu bombardieren. Über ihre Schulter hinweg rief er seinem Koproduzenten zu: »Jo, wir müssen die Dreharbeiten für eine Woche unterbrechen - mindestens.«
    »Aber…«
    »Scheiß auf das Budget.« Er wollte sich schon auf den Weg zu seinem Wohnwagen machen, als er sich noch einmal umdrehte und Jennifer die Hand auf die Schulter legte. Sie hatte bereits den Hörer am Ohr und versuchte, einen Flug zu buchen. Das Haar fiel ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Als sie den Kopf hob, schaute er sie an, und sie sah etwas in seinen faszinierenden Augen, das außer ihr nur wenige Menschen gesehen hatten: stille Verzweiflung. »Bitte«, sagte er leise. »Setz Himmel und Erde in Bewegung.«
    Jennifer brauchte einen Augenblick, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Noch Sekunden, nachdem er gegangen war, spürte sie die Wärme seiner Hand auf ihrer Schulter; das Gewicht seiner Worte. Sie schaltete das Telefon wieder ein und begann zu wählen. Alex Rivers sollte bekommen, was Alex Rivers brauchte.
    Am Mittwoch klingelte um sieben Uhr morgens das Telefon. Will schleppte sich in die Küche, ein Handtuch um die Hüfte gewickelt.
    »Ja?«
    »Watkins. Gerade hat mich das Revier angerufen. Dreimal dürfen Sie raten, wer eben aufgetaucht ist.«
    Will sank auf den Küchenboden, während um ihn herum die Welt in sich zusammenstürzte. »Wir sind in einer halben Stunde da.«
    »Will?« Er hörte Watkins’ Stimme wie aus weiter Ferne. »Mein Gott, Sie haben’s wirklich drauf.«
    Er wußte, er würde Jane wecken und ihr sagen müssen, daß ihr Mann erschienen war und sie zurückhaben wolle; er wußte, er würde sie auf der Fahrt zur Academy aufmuntern müssen, weil sie das von ihm erwartete; aber er glaubte nicht, daß er das fertigbringen würde. Die Gefühle, die Jane in ihm geweckt hatte, gingen weit über das hinaus, was einem schicksalhaften Zufall angemessen war. Es gefiel ihm zu wissen, daß sie ihre Sommersprossen unter Babypuder zu verstecken versuchte. Es gefiel ihm, wie sie beim Reden gestikulierte. Er liebte es, sie in seinem Bett liegen zu sehen. Er sagte sich, daß er einfach die gleichgültige Maske aufsetzen würde, die er die letzten zwanzig Jahre getragen hatte, und daß sein Leben innerhalb einer Woche wieder in den alten Bahnen verlaufen würde. Er sagte sich, daß es von Anfang an klar gewesen war. Und gleichzeitig sah er Jane vor sich, wie sie beim Schrei der Eule aus dem Friedhof gelaufen kam, und wußte, daß er für sie verantwortlich bleiben würde, auch nachdem sie ihn verlassen hatte.
    Sie schlief auf der Seite, einen Arm über den Bauch gelegt. »Jane«, sagte er und berührte sie an der Schulter. Er beugte sich über sie und rüttelte sie sanft. Erschrocken stellte er fest, daß Kissen und Decke nicht mehr nach ihm, sondern nach ihr rochen. »Jane, aufstehen.«
    Sie blinzelte ihn an und rollte sich auf den Rücken. »Ist es soweit?« fragte sie, und er nickte.
    Er machte Kaffee, während sie duschte, falls sie etwas im Magen haben wollte, bevor sie sich auf den Weg machten, aber
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