Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
dem Fuß stieß er unwillig am Boden liegende Kleidungsstücke beiseite. Er pflügte sich durch die kleine Wohnung. Dabei betrachtete er flüchtig die junge Unbekannte.
    Sie spürte seinen Blick und erwachte. Sie musterte Christian lange, abschätzend. Er war mager wie ein gebrühtes Suppenhuhn, das Gesicht eingefallen, die Haut grau: verbrannte Asche. Die gelblichen Pupillen rotgerändert: Glut aus der Schlacke.
    »Mensch«, sagte sie, »bist du häßlich.«
    Christian hörte mehr Verwunderung als Mitleid heraus. Er warf ihr eine Zigarette zu. Sie fing sie aus der Luft. Er schleuderte das Feuerzeug hinterher. Sie richtete sich im Bett auf. Ihr Köper spannte sich wie ein Bogen. Die Haare fielen ihr auf die bloßen Schultern. Sie umrahmten den Kopf wie eine Girlande. Ihre Augen waren hell, ihr Gesicht glatt. Ein leeres Blatt, in das sich die Zoten des Lebens noch nicht eingeritzt hatten.
    »Wie alt bist du?« fragte sie.
    »Sechsundvierzig.«
    »Erst?«
    »Vielleicht habe ich etwas zu schnell gelebt.« Er holte von einem Regal eine Schachtel mit Pillen, schüttete sie ungezählt in die Hand, schluckte sie und spülte sie mit Steinhäger hinunter. »Auch der Herbst hat sonnige Tage«, alberte er.
    »So sonnig warst du nicht«, sagte sie.
    »Wie man sich bettet, so bumst man.« Christian setzte sich neben sie.
    Sie rückte zur Seite, mehr mechanisch als erwartend. Er spürte die Wärme ihres Köpers wie durch Handschuhe. Christian hustete, nahm ihr die Zigarette aus der Hand und drückte sie im Aschenbecher aus. Er überlegte, wo er das Mädchen aufgelesen hatte; er durchstöberte sein Bewußtsein wie seine Hosentasche. Zwecklos: Seine Erinnerung war durchlöchert.
    Seit einiger Zeit durchstreifte er Nacht für Nacht die Stadt wie ein Lumpensammler. Es war sinnlos, am Morgen zu überlegen, woher der Abfall der Nacht stammte. Er hatte sich am Leben überfressen; er war kein Feinschmecker mehr. Es entsprach seiner Übung, seine Umwelt zu erleben wie Theater aus der Loge; aber er mochte nicht, daß während der Vorstellung der Platz an seiner Seite unbesetzt blieb.
    Christian wußte, daß er nicht allein sein konnte, daß er ständig auf der Flucht vor sich selbst war. Allein hatte er Angst vor sich – sicher nicht grundlos.
    »Mittag schon vorbei«, sagte er. »Du hast wohl viel Zeit?«
    »Arbeitest du?« fragte das Mädchen.
    Er schüttelte den Kopf. Postkoitale Gespräche hasste er, vor allem, wenn er nicht wußte, ob dem Nachtisch ein Hauptgang vorausgegangen war. »Ich lebe von meinem Vermögen.«
    »Und ich von meinem Unvermögen«, entgegnete sie.
    Christian war überrascht. Er hatte sie für eine kleine Verkäuferin gehalten, die sich für ein Fotomodell ausgeben würde, oder für eine Gelegenheitsdirne, die gleich einen armen, herzkranken Vater als Bettelhand auszustrecken versuchte. Nun mußte er, obwohl er um diese Zeit sonst abschaltete, sich darüber schlüssig werden, ob sie schlau oder klug, gerissen oder beschissen war.
    »Wie heißt du?« fragte er.
    »Jutta«, antwortete sie. »Was machst du?« fragte er. »Wie lebst du?«
    Jutta schwieg.
    »Hast du keine – keine Bleibe?«
    Sie fuhr herum: »Im Gegenteil«, erwiderte sie. »Ich gehe nicht nach Hause – wegen Zuhause.«
    »Das ist mir zu – zu hoch.«
    »Zu Haus ist Not und Elend«, entgegnete Jutta. »Haben doch schon die Nazis gesungen«, setzte sie hinzu. »Du nicht?«
    »Damals war ich nicht so bei Stimme«, versetzte Christian, »und heute nicht so bei Gedächtnis.« Er hustete wieder. »Übrigens hatten die Braunen den Text von den Roten geklaut.« Er schob ihr die Decke über die Schultern bis unter das Kinn. »Sei friedlich«, grinste er dümmlich, »und mach 'nen alten Mann nicht fickrig.« Er wußte nicht mehr, was er hatte sagen wollen. »Geniert es dich gar nicht, bei einem Mann im Bett zu liegen, der dein Vater sein könnte?«
    »Hätte es deinen Vater jemals gestört«, fragte Jutta, »ein Mädchen bei sich zu haben, das seine Tochter hätte sein …«
    »Nein«, antwortete er verblüfft.
    »Also«, entgegnete sie.
    »Warum seid ihr eigentlich so abgebrüht?«
    »Wer ist ihr?«
    »Ich meine – eure ganze verdammte Generation.«
    »Vielleicht gehöre ich zu einer verdammten Generation.« Juttas weicher Mund explodierte in zwei Teile: »Jedenfalls gehört ihr dann zu einer impotenten.«
    »Vorwurf aus Erfahrung?« fragte Christian.
    Sie riß ihm die Flasche aus der Hand: »Wenn ihr nicht trinkt, dann jammert ihr – oder ihr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher