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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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Konnte man zum Establishment gehören, ohne ein Heuchler zu sein? Wer mächtig ist, kann sich liberale Worte leisten. Schließlich hatten sich die schlimmsten Tyrannen Hofnarren gehalten, die ihnen sagen durften, wofür anderen die Köpfe abgeschlagen worden wären. Selbst Vertreter der muffigsten Institutionen leisten sich mitunter freizügige Reden; Worte kosten weniger als Reformen.
    Jutta sammelte ihre Kleidungsstücke ein. Beinahe pedantisch wühlte sie dabei in der Unordnung. Ebenso hartnäckig sah ihr Erik zu. Sie mußte, jedenfalls innerhalb ihrer Kategorie, Spitzenware sein. Doch wunderte er sich nicht, sie bei Christian anzutreffen. Bis zum Debakel hatte sich sein Halbbruder seine unständigen Begleiterinnen wahllos, wenn auch nicht unwählerisch gepflückt. Was ihm jetzt an Charme und Vitalität fehlte, konnte er leicht ausgleichen. Als kapitalkräftiger Manager wußte Erik, was für Geld alles zu haben war, wenn man es nur richtig anlegte. Er mußte Christian regelmäßig Unsummen überweisen, die der Nutznießer in schlimmer Weise ausgab. Erik brauchte sich nicht erst zu gestehen, daß er nicht aus Geiz Christian das Geld neidete; es war auch gleichgültig, ob sich der Außenseiter feminine Gelegenheiten kaufte, die nicht aussahen wie käufliche Mädchen. Den weitaus größten Teil seiner Mittel benutzte er, um – bewußt oder unbewußt – den Ruf des Konzerns mit der gleichen Sturheit zu zerstören wie sein Leben.
    Trotzdem hegte er keinerlei Animosität gegen den Bruder. Einmal auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht, hatte Erik zynisch entgegnet, daß ein Scharfrichter selbst dann keine persönliche Abneigung gegen den Delinquenten habe, wenn er das Urteil vollstrecke. Aber dieser faule Vergleich konnte nicht zerreden, daß Aglaia mit diesen Vorwürfen gegen Christian recht hatte.
    Jutta zog sich ins Bad zurück; Erik sah ihr nach. Christian verstand sich auf seinen Bruder. Er wußte, daß er zu höflich war, um Fragen zu stellen, und zu diszipliniert, seine Neugier zuzugeben.
    »Ich weiß wirklich nicht, wer sie ist«, beantwortete er die stumme Frage. »Seit wann interessierst du dich für Mädchen?« Er erschrak über seine Worte, konnte sie aber nicht mehr zurücknehmen. Er beobachtete ihre Wirkung wie ein Schütze, dessen Pistole versehentlich losgegangen war.
    Eriks Gesicht zeigte keinen Treffer.
    »Sie gefällt mir«, sagte er, »aber sie interessiert mich nicht.« Seine Augen ließen Christian nicht los. »Sehr gesund siehst du nicht aus.«
    »Gesundheit ist auch nicht meine Stärke.«
    »Ich weiß«, erwiderte Erik mit müder Stimme. »Wann warst du zuletzt in Starnberg?«
    »Schon 'ne Weile her.« Seine Backenknochen spannten sich. »Bist du gekommen, um mich wieder ins Sanatorium zu schaffen?«
    »In der Zwangsjacke«, entgegnete Erik, »wenn ich es könnte.«
    Seine Offenheit entwaffnete Christian, doch so leicht kapitulierte sein Mißtrauen nicht. Er suchte die Schnapsflasche; und er zögerte, setzte sie an den Mund und dann wieder ab. »Kaffee gibt es in der kleinen Kneipe an der Ecke. Hab leider nichts im Haus«, brummelte er.
    Jutta kam zurück. Sie trug Blue Jeans mit einem breiten Ledergürtel. Geschminkt sah sie reifer aus. Ihre langen Haare waren frisiert und noch immer kunstvoll unordentlich.
    »Du kannst schon vorausgehen«, wandte sich Christian an Erik. »Ich dusch' und rasier' mich nur rasch.« Er deutete auf Jutta. »Vielleicht nimmst du sie mit.«
    Das Lokal war neu für Erik; eine Imitation und trotzdem, wie er auf den ersten Blick feststellte, eine Attraktion. ›Drugstore‹ lag im Zentrum des eigentlichen Schwabing, eine Nahtstelle von täglichem Brot und nächtlichem Größenwahn. Bürger, die Gammler spielten, neben Gammlern, die mitunter ein bürgerliches Leben erträumten, wenngleich sie es verachteten.
    Erik liebte München, nicht nur Schwabings wegen. Er mochte, wie die Stadt sich gehenließ und ihre Nachlässigkeit auf den Föhn abwälzte. Anderswo war man auch schlampig, aber man leugnete es: Dort hatte man keinen warmen, trockenen Fallwind, der den Schlendrian deckt und den Tag mit Unzuverlässigkeit füttert.
    Die meisten Gäste nickten Jutta zu und streiften ihren Begleiter mit verwunderten Blicken. Man kannte sich in Schwabing. Man wußte alles voneinander, wenn man mit allem das eine meinte. Was man nicht wußte, erfand man. Doch blieb meistens der Phantasie in dieser klassenlosen Gesellschaft wenig Spielraum.
    Erik wußte, daß seine
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