Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auch ein Waschbär kann sich irren

Auch ein Waschbär kann sich irren

Titel: Auch ein Waschbär kann sich irren
Autoren: Alexander Borell
Vom Netzwerk:
konnte ich auf June nicht übertragen. Sie war zwölf Jahre alt gewesen, als sie ihren Vater verlor, und wahrscheinlich hatte sie von dessen Lebensweise nichts gewußt. Das Verbrechen mußte ihr demnach angeboren sein, es mußte ihr im Blute liegen, und es gab nichts, was sie entschuldigen oder gar entlasten konnte. Mit kalter Überlegung hatte sie Bill in den Tod gelockt, und ebenso eiskalt hatte sie Rogers erschossen.
    Ich spürte in mir die gleiche eisige Kälte; ich war, als mein Flugzeug in Los Angeles landete, dazu entschlossen, June genauso kalt zu töten. Ja, ich war geradezu von der Angst besessen, es könne während meiner Abwesenheit etwas passiert sein, so daß June bereits in den Händen der Polizei war. Ich war besessen von der Furcht, weichherzige Richter könnten Gnade vor Recht ergehen lassen, und Bills Tod würde ungesühnt bleiben. Hätte mir jemand in diesem Augenblick ins Herz schauen können und mir gesagt, ich sei gerade selbst im Begriff, einen Mord zu begehen — ich hätte ihm klargemacht, daß das Töten einer Giftschlange kein Mord sei!
    Vom Flugplatz aus rief ich die Redaktion an und ließ mich mit June verbinden. Während ich darauf wartete, ihre Stimme zu hören, merkte ich, wie meine Hände zitterten, und die Hand, die den Hörer hielt, war feucht.
    Sie meldete sich mit ihrem warmen, dunklen »Hallo!«
    »Hallo, June«, sagte ich, »hier spricht Jimmy.«
    »Oh, Jimmy!« sagte sie, »gibt’s was Neues?«
    »Du hast mir versprochen«, sagte ich, »mit zum Strand zu fahren, zu der Stelle auf den Klippen, wo Bill verunglückt ist.«
    »Ja«, sagte sie, »natürlich, Jimmy.«
    »Hast du heute abend Zeit?«
    Sie zögerte ein wenig, dann sagte sie:
    »Leider, Jimmy, heute abend geht’s unmöglich, und morgen auch nicht, aber...«
    »Warum geht es nicht heute abend?«
    Ich hörte ein leises Knacken in der Leitung.
    »Hallo, June«, sagte ich, »jemand hört mit. Warum geht’s nicht heute abend?«
    »Mr. Hazlitt ist hier in seinem Büro«, erklärte sie. »Du weißt doch, wenn er da ist, wird’s immer sehr spät, und morgen...«
    »June«, sagte ich ganz ruhig, »du wirst heute abend dort sein, genauso wie du heute vor acht Tagen dort warst.«
    Es dauerte einige Sekunden, bis ihre Antwort kam.
    »Was sagtest du, Jimmy?«
    »Du hast mich richtig verstanden. Du wirst heute abend auf den Klippen sein, genauso wie du es heute vor acht Tagen warst, als du dich mit Billy dort verabredet hast.«
    Wieder dauerte es einige Herzschläge, bis ihre Antwort kam.
    »Um Gottes willen, Jimmy! Woher weißt du...«
    »Du hättest ihm keinen Brief schreiben dürfen, June. Zum mindesten hättest du dich darum kümmern müssen, wohin dieser Brief gekommen ist. Ich erwarte dich heute abend auf den Klippen.«
    Ich hängte ein und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Nun war mein Leben nichts mehr wert!
    Ich holte meinen Wagen und fuhr nach Westwood zu Mary-Ann.
    Mary-Ann stand in Bluejeans und einer ärmellosen Bluse im Garten und sprengte aus einem Gartenschlauch den Rasen. Sie bemerkte mein Kommen nicht, und erst als ich dicht hinter ihr stand, fuhr sie erschrocken herum.
    »Jimmy! Haben Sie mich aber erschreckt!«
    Sie stellte das Wasser ab und blickte mich forschend an.
    »Was ist los mit Ihnen? Ist etwas passiert?«
    »Nichts Besonderes«, sagte ich. »Ich war beruflich in San Franzisko. Es war eine ziemliche Hetze und hat mich ein bißchen angestrengt.«
    »Kommen Sie«, rief sie eifrig, »machen Sie sich’s bequem. Wir setzen uns auf die Terrasse!«
    Wir gingen zum Haus. Mary-Ann holte eine Flasche.
    »Als Medizin«, sagte sie lächelnd.
    Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Mary-Ann. So krank bin ich nun auch wieder nicht.«
    Sie lächelte immer noch und schenkte ein Glas halb voll. Sie gab es mir, und ich hielt das Glas und ihre Finger fest.
    »Danke, Mary-Ann. Das ist sehr lieb von Ihnen.«
    Ich trank nur die Hälfte. Wir saßen uns gegenüber, schauten uns an und schwiegen. Ich wünschte mir nichts so sehr, als 24 Stunden älter zu sein.
    Wir schauten uns noch immer an, und plötzlich stand sie auf, kam zu mir, beugte sich über mich und küßte mich. Ich schlang meine Arme um ihren Nacken und zog sie auf meinen Schoß. Es war ein langer, ein unendlich langer Kuß.
    Sie kniete sich neben meinen Stuhl, legte ihre Hände auf die Armlehne, stützte ihr Kinn darauf und schaute mich an.
    »Ich muß es dir sagen, Jimmy, gerade jetzt muß ich es dir sagen: ich habe Bill sehr lieb gehabt, aber so, wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher