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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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gebeten; der Oskar müsse im Saarland bleiben, seine Stimme schonen. Na also, dann kann er bei der Abschlusskundgebung am Freitag auf dem Alexanderplatz wieder schön laut rumschreien.
    Petra Pau nimmt sich einen Stapel Handzettel, auf denen steht, was sie so vorhat in den kommenden vier Jahren, »damit es im Land gerecht zugeht«, und beginnt mit der Verteilung; die Sonnenbrille hat sie in ihre Handtasche gesteckt. Die Eingangstür der Agentur für Arbeit öffnet sichautomatisch, ein und aus gehen Menschen mit typischem Amtsbesuchsblick, zwischen genervt und resigniert. Aber sie reagieren erstaunlich freundlich auf die Kandidatin, fast jeder nimmt einen Zettel von Pau, noch lieber gleich »die rote Wahltüte« mit weiteren Broschüren, einem Kugelschreiber und Bonbons. Wonach die Bonbons schmecken, wisse sie leider nicht, sagt Petra Pau, sie vertrage nämlich keinen Zucker.
    »Rot, radikal, realistisch« steht auf ihren Zetteln und Plakaten; »rot« versteht man sofort, allein schon der Frisur wegen – aber was ist mit den beiden anderen Wörtern? »Radikal«, sagt Pau, bedeute: an die Wurzeln, an die Ursachen gehen. Und »realistisch« meine: Was kann hier und heute wirklich verändert werden? Hier, heute und jetzt versammeln sich gerade Schülerinnen und Schüler einer 9. Klasse, die Jungs tun so, als würden sie sich nicht für die Mädchen interessieren, und sind sehr vertieft in den Wettstreit, aus wessen Handy der lauteste HipHop plärrt. Wahlberechtigt sind sie noch nicht, aber einen Kugelschreiber nehmen sie gern. Morgen werden sie im Unterricht eine Wahl durchführen, in welchem Fach, das wissen sie gerade nicht so genau, »in Deutsch oder Ethik oder so«. Eine Dame mit Einkaufstüten in beiden Händen kommt des Weges, sie hebt bedauernd die Schultern, als Petra Pau ihr einen Zettel hinhält, aber die Kandidatin darf das rotradikalrealistische Flugblatt in eine der Tüten stecken.
    Zeit für einen Ortswechsel, der Wahlkampfstand wird im »Petra Pau Mobil« genannten Auto verstaut und in Biesdorf, genau zwischen Aldi und Lidl, wieder aufgebaut.
    Nur wenige Einkäufer an diesem Morgen, Petra Pau, deren blassgrünes Jackett ein bisschen aussieht wie eine zu oft gewaschene Version des Jacketts, das die Kanzlerin auf ihren aktuellen Plakaten trägt, steht etwas verloren mit ihren Zetteln auf dem großen Parkplatz: »Nicht so schlimm. Die Aufgabe ist, gesehen zu werden.« Immerhin fahren viele Autos vorbei, die sehen ja den Sonnenschirm: »Die Linke« – und der Rest ist doch eigentlich eh klar. Ein schneidiger Herr mit Radfahrer-Neonbändern an den Hosenbeinen, der sich als »alter, bekennender DDRler« vorstellt,hat viel Zeit für Pau: »Was vor der Wende noch was galt hier, müssen wir wieder lernen: Anstand, Höflichkeit, Sauberkeit, Respekt.« So kann man das Leben in einer Diktatur natürlich auch ganz schön beschreiben. Doch Petra Pau nickt: Richtig – dass der Ellenbogen der wichtigste Körperteil sei heutzutage, das sei nicht hinzunehmen. Es gehe nur noch ums Geld, stimmen beide überein. Der Mann denkt jetzt in ganz großen Zusammenhängen: Kapitalismus? Pah. Jetzt habe man hier – er deutet auf den Discounter – 50 Sorten Marmelade, na und? So viel Marmelade könne man doch gar nicht essen! »Reichtum für alle«, erklärt Pau die waghalsigen Robin-Hood-Slogans ihrer Partei, das sei natürlich ein bisschen provokant, um klarzumachen, es gehe eben nicht nur ums Geld, sondern auch um »kulturellen Reichtum«. Viele Menschen könnten aus finanziellen Gründen nie ins Kino oder Theater gehen. Jaja, scheiß Geld. Und so sind sich also alle einig, hier auf dem Parkplatz des Discounters, der mit dem Slogan »Lohnt sich« wirbt.

[ Inhalt ]
    Straßenwahlkampf: CDU
    Für Kartoffelpuffer sei es zwar noch etwas früh, sagt Roland Koch, als er um kurz nach halb zehn das Potsdamer Einkaufszentrum betritt – aber man müsse die Leute ja auch herausfordern. Der Bratfettgeruch bestätigt die Einschätzung des hessischen Ministerpräsidenten, der jetzt die Potsdamer CDU-Spitzenkandidatin Katherina Reiche begrüßt, sich seines Jacketts entledigt und eine weiße Schürze umbindet. Die beiden Politiker werden nun eine Stunde lang vor dem Eingang der Rewe-Filiale Kartoffelpuffer braten, die zwei Induktionskochplatten »mit automatischer Topferkennung« heizen schon, eine für Frau Reiche, eine für Herrn Koch. 30 Cent kostet so ein CDU-Puffer, der Erlös wird für den Wiederaufbau der Garnisonkirche gespendet. Der
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