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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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wird es jedenfalls nicht funktionieren: A plus B gleich Panikanfall; C minus D gleich ich bin geheilt .«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Meine Mutter sucht nach der magischen Formel, seit ich hier eingeliefert worden bin. Sie bildet sich ein, den Moment, in dem alles schiefging ausfindig machen zu können.«
    »Und wonach suchst du?«
    Ich hätte sagen können, dass ich das nicht wusste. Oder dass ich nach einem Weg suchte, um zu sterben. Oder nach einer Möglichkeit, mich wieder okay zu fühlen. All das stimmte und all das hatte ich den Psychologen hier erzählt. Aber Val wollte ich etwas anderes erzählen – etwas, das genauso zutraf, aber eben anders war. Den Blick auf ihre abgekauten Nägel gerichtet, sagte ich: »Ich wollte immer gern fliegen.«
    »Ein Flugzeug? Als Pilot oder was?«
    »Nein, nicht als Pilot.« Wenn man ein Flugzeug flog, war man von Metall und Glas eingeschlossen. »Ich meine, richtig fliegen.«
    Sobald ich das gesagt hatte, kam ich mir unendlich blöd vor. Sie würde glauben, dass ich ein Vogel oder ein Superheld sein wollte, was sich beides so anhörte, als sei ich in einer psychiatrischen Klinik genau am richtigen Platz. Sie sagte jedoch: »Das wäre total cool.« Dann schloss sie kurz die Augen, als wolle sie den Wind spüren, der einem beim Fliegen ins Gesicht peitscht.
    Monatelang hatte ich wie hinter einer Glasscheibe gelebt, die mich von der Welt um mich herum trennte. Damals begann sie jedoch, Risse zu bekommen. Vielleicht lag das daran, dass die Medikamente, die ich erhielt, anschlugen, vielleicht lag es aber auch daran, dass Val mir zuhörte, ohne ein Urteil über das abzugeben, was ich sagte. Danach hockten wir ständig zusammen. Und als ein paar Tage später Jake eintraf – genauso starr vor Angst, wie ich es zu Anfang gewesen war –, nahmen wir ihn in unsere kleine Gruppe auf.
    Ich habe es nur einmal erlebt, dass Val sich verhielt, als gehöre sie tatsächlich ins Patterson Hospital. Eines Tages drehte sie durch. Warum, habe ich nie herausgefunden. Ich war zusammen mit Jake im Aufenthaltsraum, als wir draußen im Gang Lärm hörten. Jake versteckte sich sofort unter einem Stuhl – er war noch in der Phase, wo er es nicht ertrug, wenn es irgendwie turbulent zuging –, doch ich steckte den Kopf zur Tür raus und sah, wie einige Kids vor Val flohen. Auf dem Boden lag ein Plastiktablett aus der Cafeteria. Offenbar hatte Val es dort hingeworfen. Die Pfleger gingen langsam auf sie zu und redeten mit leiser Stimme beruhigend auf sie ein, ungefähr so, wie man mit einem wilden Tier sprechen würde. Ich wusste, dass sie sie in den Ruheraum schleppen würden, sobald sie sie geschnappt hatten.
    Doch sie brach in Tränen aus und ließ sich auf eines der geblümten Sofas im Gang fallen. Als die Pfleger sich ihr näherten, hob sie abwehrend die Hand. In der Klinik gab es die Regel, dass man sich nicht anzufassen lassen brauchte, sofern man nicht gewalttätig war und keinen Schaden anrichtete. Einige der Kids starrten Val an, manche kicherten, andere rannten davon. Und etliche zogen sich wieder in ihre eigene Welt zurück. Ich schlich zu Val hinüber, obwohl ich erwartete, dass sie auch mich wegscheuchen würde. Doch sie ließ es zu, dass ich mich neben ihren Kopf auf die Sofakante setzte.
    Ich hielt meine Hand über ihr Haar, ohne es zu berühren. Dann senkte ich, auf jede Reaktion von ihr achtend, Millimeter für Millimeter die Hand. Sie schluchzte sich die Seele aus dem Leib. Schließlich legte ich die Hand auf ihr glänzendes schwarzes Haar, ohne dass sie zurückzuckte. Sie weinte so heftig, dass mir selbst der Hals davon wehtat, gab Laute von sich, die sich anhörten, als kratze Metall über Asphalt. Es erschütterte mich, Val in diesem Zustand zu sehen, weil sie sonst immer so ausgeglichen gewirkt hatte.
    Ich tätschelte ihr den Kopf. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Wenn nötig, hätte ich hundert Jahre neben ihr auf dem Sofa gesessen. Sie weinte, bis sie völlig erschöpft war.
    Später fragte ich sie, warum sie mich in ihre Nähe gelassen hatte. »Weil du der Einzige warst, der nicht wollte, dass ich endlich aufhöre«, sagte sie.
    Über diese ersten Tage im Patterson Hospital hatte ich lange nicht nachgedacht. »Früher haben wir jeden Tag miteinander geredet«, schrieb ich jetzt an Val. »Ich glaube, du fehlst mir.« In Wirklichkeit war ich mir sicher, dass sie mir fehlte, aber so direkt konnte ich das nicht sagen.
    »Du fehlst mir auch, aber du wohnst dort, ich wohne hier,
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