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Asylon

Asylon

Titel: Asylon
Autoren: Thomas Elbel
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heute
Morgen gelesen«, sagte die Dame und fügte in nüchternem Tonfall hinzu: »Sie
sehen gar nicht aus, wie man sich einen Helden vorstellt.«
    John dachte über eine passende
Antwort nach, doch ihm wollte nichts einfallen, und so zuckte er nur mit den
Schultern.
    Die Dame richtete ihren Blick
wieder auf den flachen Bildschirm mit dem Artikel, sodass ihr Gewicht für einen
Moment schwer auf seiner Schulter lastete. Ein altbekannter Schmerz meldete
sich zurück und ließ ihn zur Seite zucken.
    »Autsch!«, entfuhr es ihm
unwillkürlich.
    »Was haben Sie denn?«, fragte die
Dame pikiert.
    »Oh, nichts. Es ist eine alte
Schussverletzung.«
    Eine ihrer Augenbrauen huschte
misstrauisch nach oben. »Schussverletzung? Wie, in aller Welt, ist das denn passiert?«
    »Ehrlich gesagt, ich hab keine
Ahnung. Ich …«
    »Ach, stimmt«, fiel sie ihm ins
Wort. »Sie haben ja vor einigen Jahren das Gedächtnis verloren. Das steht auch
in dem Artikel.«
    John lächelte gequält.
Mittlerweile verwünschte er seine unbedachte Platzwahl.
    »Wie lange ist das her?«, fragte
sie mit unverhohlener Neugier.
    »Der Gedächtnisverlust? Oh, ich
kann mich an ungefähr alles in den letzten sechs Jahren erinnern, aber an
nichts davor.«
    »Nein, wirklich?« Ihr Gesicht
spiegelte Unglauben wider. »Ihre Kindheit, Ihre Eltern, wie alt Sie sind … Alles
weg?«
    John nickte. »Eine Polizeistreife
hat mich eines Morgens im Frühling vor sechs Jahren aufgegriffen. Ich wanderte
eine Straße in Hacienda Heights entlang, mit dieser Schusswunde in der
Schulter, und konnte mich an nichts erinnern. Der Polizeiarzt, der mich
untersucht hat, meinte, ich sei wohl überfallen worden. Der Gedächtnisverlust
könne eine Folge des Schocks sein.«
    »Und Ihr Name? Hier steht, Sie
heißen John Smith.« Ihr knubbeliger Zeigefinger tippte auf das Screenpad, das
mittlerweile auf seinem Schoß lag.
    »Hat der Beamte der Meldebehörde
für mich ausgesucht. Ich hatte nichts bei mir, keine Papiere oder sonst irgendwas.
Nur die Kleidung am Leib.«
    »Aber das muss ja furchtbar sein.
Also ich meine, so ohne alles dazustehen«, lamentierte sie so laut, dass sich
einige Leute nach ihnen umdrehten.
    »Ich hatte Glück im Unglück«,
beschwichtigte John. »Die Familie eines Polizeibeamten hat mich für ein paar
Monate aufgenommen, bis ich Wohnung und Arbeit gefunden hatte.«
    »Ach …« Sie rang die Hände. »Es
gibt doch noch gute Menschen.« Dann bedachte sie ihn mit einem Blick voll
mütterlicher Strenge. »Ich hoffe sehr, Sie haben sich Ihrem Wohltäter gegenüber
dankbar gezeigt.«
    »Ich denke schon«, antwortete er
schmunzelnd. »Ich habe ein wenig beim Hausbau ausgeholfen.«
    »Aha«, quittierte die Dame und
verfiel in tiefes Brüten.
    Der Bus hielt an.
    »Puente Station!«, ertönte die
Ansage.
    »Das ist ja meine!«, rief die
Dame. Hektisch wühlte sie sich aus dem Sitz, schubste ein paar der im Gang
Stehenden beiseite und verließ ohne jedes Abschiedswort den Bus.
    John schüttelte seufzend den Kopf
und nahm das Screenpad wieder auf. Gerade wollte er sich wieder seinem Artikel widmen, als ein Hinweis auf einen anderen
Bericht am seitlichen Bildschirmrand seine Aufmerksamkeit weckte.
    Berufungsgericht
bestätigt Lebenslänglich für Ex-Vorstand von SecuCorp wegen Asylon-Skandal
    John holte sich den
entsprechenden Artikel auf den Bildschirm. Neben dem Text zeigte ein Foto einen
graumelierten Herrn im Businessdress auf den Stufen eines Gerichtsgebäudes,
umgeben von einer Schar Reportern. Der Mann lächelte ein breites
Raubtierlächeln. Die Bildunterschrift lautete:
    Warren McDunn,
Gründer und ehemaliger CEO der SecuCorp,
nach der Bekanntgabe des Urteils gegen ihn am gestrigen Nachmittag vor dem
Appellationsgericht
    Fasziniert starrte John auf das
Bild und die Überschrift des Zeitungsberichts. Er spürte, wie ihn das Bild und
die Worte dazu in eine seltsame innere Stimmung versetzten, jene vage Ahnung
vergangener Ereignisse. Leider hatte ihn das Gefühl bisher nie zu irgendetwas
wirklich Bedeutendem geführt. Erst letzte Woche war ihm in einem Restaurant
eine Frau aufgefallen, die ihm irgendwie bekannt vorgekommen war. Die Tatsache,
dass sie ihn ebenfalls auffallend intensiv gemustert hatte, hatte ihn
schließlich ermutigt, sie anzusprechen. Leider hatte sie sich als Mitglied
einer obskuren religiösen Gemeinschaft entpuppt, deren Interesse nur darin
bestand, ihn zu missionieren. Resignierend hatte er wieder einmal einsehen
müssen, dass seine Vergangenheit nicht
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