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Aschenputtels letzter Tanz

Aschenputtels letzter Tanz

Titel: Aschenputtels letzter Tanz
Autoren: Kathleen Weise
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Phantomschmerz heißt das. Das passiert, wenn Leute ein Bein verlieren oder so. Es fühlt sich an, als wäre es immer noch da.« Sie legt den Kopf schief. »Komisch, was?«
    Mir wird ganz schlecht. Bevor ich anfange zu heulen, hebe ich lieber eins der Blätter vom Boden auf.
    »Sag nichts. Ich weiß, ich bin nicht besonders gut.«
    »Nein, wohl nicht«, gebe ich ehrlich zu. »Was soll das sein?« Ich drehe das Blatt.
    »Ursprünglich sollte es eine Katze werden, aber jetzt ähnelt es mehr einem fetten Wurm.«
    »Ja, es hat keine Beine.«
    Kichernd nimmt Elsa mir das Blatt aus der Hand undwirft einen mitleidigen Blick darauf. »Armes Ding, so wird sie keine Mäuse jagen können. Tja, sieht ganz so aus, als hätte ich nur dieses eine Talent gehabt. Singen kann ich jedenfalls auch nicht.«
    »Du wirst bestimmt etwas Neues finden, das dir genauso viel Spaß macht.«
    Auf einmal sieht sie mich unergründlich an, und für einen kurzen Moment ist der rot umrandete Blick ein Leuchtfeuer, das sich in mich hineinbrennt. Doch genauso schnell, wie es entflammt ist, erlischt es auch wieder. Dann lacht sie laut auf und wirft das Bild zur Seite, und ich frage mich schon, ob ich mir diesen seltsamen Ausdruck in ihrem Gesicht vielleicht nur eingebildet habe.
    Mutsch behauptet immer, ich hätte den Instinkt eines Tieres – ein sechster Sinn wie bei deinen Ratten – und der hat mir heute früh schon eingeflüstert, dass es ein seltsamer Tag werden wird. Genauso wie er mir jetzt sagt, dass hier irgendetwas merkwürdig ist.
    Mit einem Schnaufen lässt sich Elsa aufs Bett fallen und sieht durch das Fenster nach draußen, wo der Regen inzwischen zu einer wahren Sintflut geworden ist. »Willst du wissen, was auf dem Zettel stand, den die Polizei bei mir gefunden hat? Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen .«
    Verständnislos schaue ich sie an.
    »Du weißt schon, Aschenputtel.«
    »Das ist alles?«
    Sie nickt. »Die Polizei vermutet, dass ich den Täter irgendwieverärgert habe und das Ganze seine Version von Kröpfchen ist. Und ich bin die Schlechte.« Sie lacht freudlos und sieht mich wieder an. »Natürlich haben die das so nicht gesagt, ich weiß das von Paps. Mutter will über den ganzen Vorfall am liebsten gar nicht reden, Paps dagegen …« Sie zuckt mit der Schulter, wie sie es schon die ganze Zeit tut. Es ist eine komische neue Angewohnheit. »Mir ist es auch lieber, wenn nicht so viel darüber gequatscht wird, ich meine, Ma hat schon recht, es ändert ja gar nichts dran.«
    Ich kann nicht fassen, dass ich nicht gemerkt habe, was hier vor sich geht, als wir das letzte Mal am Telefon gesprochen haben. Das ist keine zwei Wochen her. Sie hat mir erzählt, dass sie sich neue Ohrringe gekauft hat, und ich hab mich aufgeregt, weil Edgar schon wieder zugenommen hat, obwohl ich versuche, ihm sein Fressen einzuteilen. Aber er wühlt eben so lange in den Sägespänen, bis er Tennessees Vorräte findet, weswegen sein Kugelbauch immer runder wird.
    Mit keinem Wort hat Elsa etwas erwähnt.
    Sie hat gelacht.
    Und dabei habe ich immer gedacht, wir stünden uns nahe, denn bisher haben wir uns richtig gut verstanden. Wir mailen uns das ganze Jahr über Fotos und telefonieren, manchmal sogar stundenlang. Doch jetzt habe ich das Gefühl, sie entfernt sich von mir. Aber vielleicht ist das auch normal, wenn einem etwas Schlimmes passiert? Man versucht eben, darüber wegzukommen. Ichwürde es an ihrer Stelle auch nicht mögen, wenn die Leute um mich herum plötzlich anfangen rumzustammeln und mich mitleidig anzusehen.
    Als Elsa meinen grübelnden Blick auffängt, springt sie ungelenk auf und tritt neben mich. Lachend wirbelt sie mich zu dem großen weißen Kleiderschrank herum, dessen linke Tür ein fleckiger, halbblinder Spiegel ist, in dem sie früher ihre Übungen verfolgen konnte. Nebeneinander stehen wir davor und bilden ein seltsames Paar: ein Pilot und eine Amazone, beides so falsch wie Mutschs Haarfarbe.
    »Ach, Harper …«, murmelt Elsa und legt das Kinn auf meine Schulter, während sie mir die Arme um den Bauch schlingt. Der Verband um ihren Fuß schabt über meinen Schuh, und ich habe das Gefühl, dass sie darauf wartet, dass ich etwas Bestimmtes sage. Aber ich komme nicht drauf, was. Deshalb lege ich meine Hände auf ihre Arme und drücke sie fest, genau wie Mutsch es immer macht, wenn sie mich trösten will, und erst nach einer ganzen Weile löse ich mich vorsichtig von Elsa. Ich drehe mich zu ihr um, weil ich ihr
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