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Aschenputtels letzter Tanz

Aschenputtels letzter Tanz

Titel: Aschenputtels letzter Tanz
Autoren: Kathleen Weise
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fest in die Arme, als könne sie nur mit ihrem Körper alles Schlechte in der Welt von ihr abwenden – während ich noch immer starr und stumm neben ihnen stehe. Fassungslos darüber, dass etwas so Ungeheuerliches ausgerechnet Elsa passiert sein soll.
    Das hört man doch sonst nur in den Nachrichten; es geschieht einem nicht selbst oder den Leuten, die einem nahestehen …
    Auch Großmutter scheint nicht so recht zu wissen, was sie sagen soll, denn sie setzt sich trotz des Rattenkäfigs an den Küchentisch und stützt den Kopf in die Hände. Auf einmal sieht sie alt aus. Aus der strengen Wächterin dieses Anwesens ist eine erschöpfte Greisin geworden, deren Haar schlohweiß ist. Ich habe sie noch nie so hilflos gesehen.
    »Wer macht denn so etwas?«, flüstert Mutsch in Elsas Amazonenhaar, und nur zögernd löst sie sich von ihr, um ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen. Tapfer lächelt sie auf Elsa herab, aber die erwidert das Lächeln nicht. »Ich … kann das gar nicht begreifen …«
    »Die Polizei tappt noch im Dunkeln«, berichtet Großmutter weiter. »Man weiß nicht viel mehr, als in der Zeitungstand. Er war sehr vorsichtig …« Mit bebender Stimme bricht sie ab, aber Elsa redet für sie weiter, nüchtern und distanziert, so als würde es gar nicht um sie, sondern um irgendein fremdes Mädchen gehen.
    »Es ging zu schnell. Er ist von hinten gekommen und hat mir einen Lappen aufs Gesicht gedrückt. Mit Chloroform … wie in den alten Krimis, die Paps so gerne guckt. Aber der Täter muss sich damit ausgekannt haben, weil …« Sie deutet mit der Hand auf den bandagierten Fuß. » … wegen der Amputation. Ich bin ja nicht verblutet oder so.«
    Bei dem Wort Amputation erfasst die kriechende Kälte endgültig mein Herz, das sich schmerzhaft zusammenzieht. Ich kann mir nicht vorstellen, warum irgendjemand Elsa überfallen und ihr etwas so Schreckliches antun sollte. Sie ist der reinste Sonnenschein, aber nicht auf diese gefakte Art. Nein, Elsa ist echt. Sie hat nie ein schlechtes Wort über irgendwen verloren. Es gibt niemanden, der sich ihrem Feencharme entziehen kann.
    Dachte ich jedenfalls bis heute.
    »Hatten wir nicht vereinbart, dass wir nicht mehr über diese Sache reden wollen?«, kommt es da plötzlich von der Tür, und wie auf Kommando drehen wir die Köpfe.
    Mit verschränkten Armen lehnt Tante Luise am Türrahmen, die Mundwinkel nach unten gezogen, der Blick ihrer blauen Adleraugen anklagend auf Elsa gerichtet. Sie ist barfuß, weshalb sie niemand kommen gehört hat. Ihr einfarbiges rotes Kleid zeigt, wie schlank sie ist, undobwohl sie Mutsch ziemlich ähnlich sieht, weil sie Schwestern sind, ist alles an ihr ein bisschen gerader: das Haar, die Nase und auch die Haltung.
    »Wieso habt ihr uns denn nicht angerufen?«, will Mutsch von ihr wissen, ohne Guten Tag zu sagen. Dass sie auf Krawall gebürstet ist, kann ich beinahe riechen.
    »Was hättest du denn machen wollen?«, erwidert Tante Luise ungehalten, während sie näher tritt und missmutig auf den Käfig schaut, in dem sich langsam etwas regt. »Es ist ja nicht mehr zu ändern. Wir können nur hoffen, dass die Polizei den Täter schnell findet, damit er nicht noch weiteres Unglück über andere Leute bringt.«
    »Wie kannst du das nur so abtun, Luise?« Ein bisschen hilflos schaut Mutsch zu Elsa, der das ganze Gespräch unangenehm zu sein scheint, denn sie sieht aus wie ein Tier in der Falle. Hektisch huscht ihr Blick hin und her auf der Suche nach einem Fluchtweg. Dabei ähnelt sie ein bisschen Edgar, wenn ich ihn in einer unbekannten Umgebung aus dem Käfig nehme.
    »In einer Familie sollte man über solche Sachen doch Bescheid wissen.« Mutsch lässt nicht locker und wird nun lauter: »Das ist doch keine Kleinigkeit!«, woraufhin Elsa mich bei der Hand nimmt und aus der Küche zerrt. Schon erheben sich hinter uns die Stimmen in einem wütenden Wirbelsturm, gegen den das Gewitter draußen wie eine sanfte Brise wirkt.
    Keine drei Minuten hat es gedauert, bis sich Tante Luise und Mutsch wieder in die Wolle kriegen. Das istschnell. Selbst für sie und dafür, dass sie im Streiten miteinander einige Erfahrung haben.
    Tante Luise ist sechs Jahre älter als Mutsch, aber natürlich hat sie mit dem Kinderkriegen gewartet, bis sie verheiratet gewesen ist. Sie ist nicht einfach mit siebzehn von zu Hause abgehauen und war mit achtzehn schwanger, nein, Tante Luise hat alles genau so gemacht, wie es Großmutter für richtig hält. Sie hat eine
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