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Aschenputtels letzter Tanz

Aschenputtels letzter Tanz

Titel: Aschenputtels letzter Tanz
Autoren: Kathleen Weise
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Lebensbedrohliches geschehen … Aber ihr solltet euch vielleicht wappnen, Elsa ist nicht …«
    Sie kann den Satz nicht beenden, denn auf dem Flur quietscht die Schwingtür, die in den hinteren Flügel des Gebäudes führt, und schon schallt es laut »Harper!« über den Gang. Keine zwei Sekunden später taucht Elsa in der Türöffnung zur Küche auf. Sie hat wohl einfach länger gebraucht, denke ich noch, bevor mir zwei Dinge zugleich auffallen. Das Erste sind ihre abgeschnittenen Haare.
    Das Zweite ist der dicke Verband an ihrem linken Fuß.

E lsa ist zierlich, die reinste Fee. Dunkelblondes Haar, große tintenblaue Augen und Handgelenke so dünn wie Hühnerknochen. Sagt sie jedenfalls selbst darüber. Niemand hat je daran gezweifelt, dass sie eines Tages die Hauptrolle in Schwanensee tanzen wird, genau so wie sie es im Alter von vier Jahren während ihrer ersten Ballettstunde in die Welt krakeelt hat. Seit Jahren trainiert sie wie besessen dafür.
    Aber irgendwie ist aus der Schwanenprinzessin plötzlich eine Amazone geworden.
    Zierlich ist sie zwar immer noch, aber das feine, lange Feenhaar ist verschwunden und hat einem kurzen, fransigen Durcheinander Platz gemacht, das aussieht, als hätte sich Elsa die Haare selbst geschnitten.
    Ohne Spiegel und mit einer stumpfen Schere.
    Die zarten Blumenkleider, die bisher ihren Ballerinakörperumweht haben, sind einer alten, löchrigen Jeans und einem karierten Hemd mit roten Flecken gewichen. Mit derselben rostroten Farbe hat sie sich eine Maske um die Augen gemalt, die ihr Gesicht zu einer Furcht einflößenden Fratze macht.
    »Mein Gott, was hast du jetzt wieder angestellt?«, entfährt es Großmutter bei diesem Anblick, doch Elsa zuckt nur mit den Schultern, als wäre ihr Aufzug vollkommen normal. Ihre blauen Augen funkeln in dem wild gewordenen Rot.
    »Das ist nur Wasserfarbe«, sagt sie ruhig. »Ich male.«
    »Mit dem Gesicht?«, frage ich, aber auch das erntet nur ein weiteres Schulterzucken.
    »Was ist denn passiert?«, will Mutsch wissen und deutet auf den Verband, der bei Elsa kein seltener Anblick ist. Blaue Zehen, Schwellungen und abgebissene Fingernägel gehören ebenso zu ihrem harten Ballettalltag wie ein strenger Ernährungsplan. Ich glaube, sie hat keinen Quarkkuchen mehr gegessen, seit sie in die Schule gekommen ist. Tante Luise passt auf wie ein Luchs, dass wir ihr zum Geburtstag keine Süßigkeiten schenken. Und selbst an Weihnachten muss Elsa alle Schokoladenmänner abgeben, die sie bei irgendwelchen Feiern oder in Geschäften geschenkt bekommt.
    Auf Mutschs Frage senkt sich eine drückende Stille über die Küche, und die einzigen Geräusche, die wir hören, sind der Regen, der gegen die Fenster trommelt, das Donnergrollen und unser angestrengtes Atmen.
    »Elsa ist überfallen worden«, sagt Großmutter nach einer Weile leise. »Vor einigen Wochen …« Sie atmet ein paar Mal tief durch, als würde ihr das Sprechen schwerfallen, und geht zum Büfettschrank hinüber, um einen Zettel aus der obersten Schublade herauszuziehen, die wieder einmal klemmt, weil sich das Holz in der feuchten Luft verzogen hat. Von meinem Platz aus kann ich sehen, dass ihre Finger zittern, als sie an der Schublade ruckelt.
    Der Zettel entpuppt sich als zerknitterter Zeitungsausschnitt, den sie Mutsch mit der Spitze ihres Zeigefingers über den Tisch schiebt, als wäre er giftig.
    Die ganze Zeit über bleibt Elsa regungslos neben mir stehen, aber ich kann die Wärme, die von ihr ausgeht, auf meinem Arm spüren. Amazonenfeuer, denke ich, und wie bestellt dringt wieder ein leises Fiepen aus dem Käfig, um die Stimmung noch ein bisschen dramatischer zu gestalten .
    Elsa hat die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt und lässt Mutsch nicht aus den Augen, als diese den Artikel liest und ihr Gesicht dabei erst weiß und dann rot wird. Beunruhigt stelle ich mich hinter sie, um über ihre Schulter mitzulesen.
    … bewusstlose 14-Jährige am Rand des Geißelmoors … erst betäubt und ihr dann mit einem Skalpell … die große Zehe des linken Fußes amputiert …
    Weiter komme ich nicht, denn mein Blick richtet sich wie ferngesteuert auf den Verband an Elsas Fuß, und dieKälte aus meinem Magen kriecht plötzlich auf mein Herz zu, das hart gegen die Rippen schlägt.
    »Das kann doch nicht wahr sein …«, presst Mutsch hervor und springt auf. Dabei wirft sie den Stuhl um, der krachend zu Boden fällt. Aber das kümmert sie nicht, denn sie stürzt auf Elsa zu und nimmt sie
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