Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aschenputtels letzter Tanz

Aschenputtels letzter Tanz

Titel: Aschenputtels letzter Tanz
Autoren: Kathleen Weise
Vom Netzwerk:
kaum wieder.
    »Wenn das so weitergeht, werdet Ihr eines Tages genauso aussehen wie Honoré«, sagte Tanguy, der Vertraute ihres Vaters, als er bemerkte, wie sie sich mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Wange fuhr und in dem alten, beschlagenen Spiegel die seltsamen Veränderungen betrachtete, die die Sonne mit ihr anstellte.
    Irritiert blinzelte sie. »Glaubst du wirklich, dass wir irgendwann so werden wie diese Schwarzen?«, fragte sie. Ihre Erzieherin, Madame Cigny, hatte zwar behauptet, dass es nicht möglich sei, die Hautfarbe zu wechseln,aber wer wusste schon, was in diesem seltsamen Land alles geschehen konnte.
    Lachend hob Tanguy den letzten Koffer auf, um ihn nach unten zu tragen. »Ich glaube nicht, dass Ihr Euch darüber Gedanken machen müsst, Éloise. Wenn es so wäre, müssten ja auch die Herren aus der Kolonialversammlung bereits schwarz bis zu ihren Nasenspitzen sein.«
    In seinen breiten Händen sah der große Reisekoffer aus, als würde er nichts wiegen, dabei lagen in ihm das tragbare Fernrohr, mit dem Éloise seit Jahren die Sterne beobachtete, die Planetenmaschine und das Tafelsilber der Familie de Bouillé, das sie aus Frankreich mitgebracht hatten. Als er den Raum verließ, musste er sich bücken, um nicht am Türrahmen anzustoßen. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, hatte sich sein Hemd am Rücken bereits vom Schweiß dunkel gefärbt und das dunkelblonde Haar klebte ihm in feuchten Strähnen im Nacken. Von ihnen allen ertrug er die Hitze trotzdem am besten, denn als er noch zur See gefahren war, hatte er auch die Länder auf dieser Seite des Ozeans kennengelernt; für ihn war die sengende Sonne eine alte Bekannte, die über die Jahre nichts an Kraft verloren hatte.
    Lediglich die Stirn wischte er sich hin und wieder mit seinem roten Taschentuch ab und sein Hemd war weiter aufgeknöpft, als er es daheim in Frankreich des Anstandes wegen gewagt hätte. Darunter kam die gezackte Narbe über seinem Herzen zum Vorschein, die er bei einerMesserstecherei im Hafen von La Rochelle davongetragen hatte – halb verdeckt vom Bild des heiligen Nikolaus, dem Schutzpatron der Seeleute, das mit Tinte in Tanguys Haut gestochen war.
    »Ein Halunke von einem Seemann«, flüsterte Éloise in die Stille des leeren Raums und wiederholte damit nur die Worte, die ihr Vater gern scherzhaft für seinen treuesten Diener verwandte.
    Seit siebzehn Jahren stand Tanguy im Dienst der de Bouillés, und als Éloises Vater nach dem Tod ihrer Mutter beschlossen hatte, in die Kolonien aufzubrechen, war Tanguy dem Marquis auch dorthin gefolgt. Zum Glück, wie es schien, denn bereits kurz nach ihrer Ankunft auf dieser seltsamen Insel hatte er Éloise gerettet, nachdem sie mitten hinein in eine Calenda geraten war. Eines jener wilden Feste, die die Schwarzen auch in der Öffentlichkeit veranstalteten und mit denen sie ihre Geister, die Loa , ehrten. Das Ganze war ein entsetzliches Spektakel gewesen, und beim Gedanken daran, was hätte passieren können, schauderte Éloise.
    Noch immer klangen ihr die zornigen Rufe des Schwarzen mit der Schädelkette in den Ohren, und wenn sie die Augen schloss, sah sie die klappernden Tierschädel vor sich. In seinem Gesicht hatte sie kein Mitgefühl gesehen, nur lodernde Wut – und die hatte ihr gegolten.
    Nach diesem Vorfall war sie nicht mehr aus dem Haus gegangen. Während sich ihr Vater in der Kolonialversammlung den anderen Grands Blancs vorstellte,um Kontakte für zukünftige Geschäfte zu knüpfen, beobachtete Éloise vom Fenster aus die Stadt, die sich wimmelnd und lautstark unter ihr ausbreitete. Stundenlang lauschte sie den Stimmen, die an ihr Ohr drangen, während die Schatten an den Wänden länger wurden und seltsame Figuren bildeten. Ganze Landschaften entstanden dort auf den Tapeten im roten Licht der vergehenden Nachmittagsstunden; manchmal der bretonische Wald mit seinen hohen Bäumen und manchmal die Straßen von Nantes, die Éloise so gut kannte. Dann hatte sie für einen Moment lang wieder den Geruch von Asche, Parfüm und Färbemittel in der Nase gehabt.
    Wenn sie aber blinzelte und in die Wirklichkeit zurückkehrte, hatte stattdessen das Meer die Luft von Saint-Domingue mit seinem Geruch erfüllt, ebenso wie die taufeuchte Erde und die schweren Orangenblüten. Das Klackern der tausenden Absätze auf den Straßenpflastern von Nantes war hier nur noch eine ferne Erinnerung. Viele Bewohner von Le Cap, von denen die meisten Mulatten und Schwarze waren, liefen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher