Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aschenputtels letzter Tanz

Aschenputtels letzter Tanz

Titel: Aschenputtels letzter Tanz
Autoren: Kathleen Weise
Vom Netzwerk:
dass ich sie angehalten hatte.
    Obwohl ich am liebsten die Augen verschließen würde, knie ich mich hin, und ohne darüber nachzudenken, was ich eigentlich tue, streicht meine Hand eine dunkle Locke zur Seite – auch wenn ich nur die eine Gesichtshälfte vollständig sehen kann, weiß ich doch sofort, dass das wahrscheinlich das schönste Mädchen ist, das ich je gesehen habe.
    Lange, gebogene Wimpern werfen Schatten auf die weiße Haut; die Lippen – genau so habe ich mir als Kind Prinzessinnen vorgestellt.
    Perfekt.
    Vorsichtig nähert sich meine Hand ihrem Gesicht, ihrschwacher Atem streift meine Finger, und ganz langsam drehe ich ihren Kopf noch etwas mehr in meine Richtung.
    Und schließe bei dem Anblick, der sich mir bietet, sofort wieder die Augen.
    Eine hässliche rote Wunde zieht sich vom Kinn über die linke Seite hin zur Schläfe. Undefinierbare gelbe Schlieren schlängeln sich wie Aale durch die Haut. Das Blut ist auf den Boden gelaufen und hat Ohr und Haare verkrustet. Der Mundwinkel hängt unnatürlich schlaff nach unten.
    Sofort wird mir schlecht, und ich muss ein paar Mal schlucken, um mich nicht zu übergeben. An meinen Fingerspitzen klebt Blut.
    Irgendetwas ist hier passiert, das niemals hätte passieren dürfen. Etwas unsagbar Schreckliches. Es liegen nicht einfach Mädchen im Moor herum, deren Gesichter aussehen, als hätte sie jemand mit einem Stück Schinken verwechselt, aus dem man ein Stück herausschneidet.
    … oder denen jemand mit ruhiger Hand eine Zehe amputiert.
    Ob Elsa auch so auf der Erde gelegen hat? Blutig und verdreckt? Mit flatternden Lidern?
    Die Angst packt mich.
    Vor einem Monster, das sein Unwesen im Moor treibt und Jagd auf Feen und Prinzessinnen macht.
    Ich bin zwar keine, trotzdem will ich sofort zurücklaufen, fliehen. Ich bin schon halb aufgestanden, als ichzögere. Ich kann das Mädchen nicht einfach hier liegen lassen. Ihre Lider flattern, aber sie wacht nicht auf, und ihre Haut ist kalt wie Eis.
    Eine Eisprinzessin .
    Was mache ich hier nur?
    Ich muss jemanden anrufen! Einen Krankenwagen. Aber mein Handy liegt im Haus. Ich habe es dort gelassen, weil ich ja nur ein bisschen im Moor spazieren gehen wollte und man den Empfang hier draußen sowieso vergessen kann.
    Panisch drehe ich mich um. Ob irgendwer in der Nähe ist?
    »Ich komme wieder …«, flüstere ich der Eisprinzessin zu, auch wenn sie mich gar nicht hören kann, und komme schwankend auf die Beine. Da fällt mir auf einmal ein heller Fleck am Rand meiner Wahrnehmung auf. Ein Zettel, den das Mädchen in der Faust hält. Ich bücke mich, denn ein furchtbarer Verdacht lauert am Rand meines Bewusstseins. Mit zitternden Händen löse ich ihre verkrampften Finger von dem Stück Papier und falte es auseinander. Von Schweiß und Erde ist der Zettel ganz dreckig.
    Es handelt sich um ein schlichtes Stück Papier, die Hälfte eines A4-Blattes, wie es sie zu Tausenden gibt. Darauf sind mit Computer nur fünf Worte geschrieben: Spieglein, Spieglein an der Wand …
    Schneewittchen.
    Entsetzt stolpere ich davon, den Zettel fest in meinerHand, immer schneller fliegen meine Beine über den Torf, längst nicht mehr vorsichtig; ich sehe mich nicht um. Ich renne bis zur Grenze, die der Bruchwald bildet, meine Lungen schmerzen, und ich kriege kaum noch Luft, aber jetzt, auf dem sicheren Untergrund, werden meine Beine noch schneller …
    Als ich plötzlich einem Wesen gegenüberstehe – und schreie. Es ist ein schwarzköpfiger Teufel mit geringelten Hörnern und kleinen dunklen Augen, die mich mitleidslos anstarren.
    Doch der Teufel springt bei meinem Schrei zurück und entpuppt sich als verschrecktes Schaf. Eine Heidschnucke mit dickem Fell. Erleichtert atme ich aus, während ich noch am ganzen Körper zittere.
    Da taucht hinter den Bäumen auf einmal ein Mann auf, der irritiert die Stirn runzelt, als er mich sieht. »Alles okay?«, fragt er und krault der verschreckten Heidschnucke den Kopf.
    Panisch blicke ich mich nach einem Fluchtweg um.
    »Ganz ruhig, Mädchen, ich tu dir nichts. Ich bin Schäfer und arbeite hier.«
    Ich begreife nicht, was er sagt. Ich brauche Hilfe. Wenn er derjenige ist, der das Mädchen überfallen hat, wird er sich dann auf mich stürzen?
    Ich sehe kein Blut an ihm. Trotzdem gehe ich unsicher einen Schritt zurück.
    »Ist etwas passiert?«, fragt er und hebt beide Hände, damit ich sehen kann, dass er unbewaffnet ist.
    »Dahinten …«, höre ich mich sagen.
    »Beruhig dich, was ist denn?«
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher