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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix
Autoren: Kai Meyer
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Nase und Mund. Blinde, schreiende Fratzen. Schließlich ein einzelnes großes Auge, das eine halbe Wand bedeckte. Es schien ihnen nachzublicken, mit schwarzer, schimmernder Pupille.
    Zwei Rolltreppen führten hinauf ins Erdgeschoss. Das Licht war grau und schmutzig.
    »Draußen werden wir sie vielleicht los«, rief Parker, während die Metallstufen unter ihren Schritten schepperten.
    Oben streiften Passanten sie mit teilnahmslosen Blicken. Ein Mann hatte keine Augen, wie die Graffitigesichter in den Gängen; sie wurden vom Schirm seiner Mütze verdeckt, eine rote Sichel, als prangte da ein zweiter Mund über seiner Nasenwurzel und grinste.
    Im Vorraum des kleinen Stationsgebäudes hielt Ash abermals inne.
    Parker sah sich ungeduldig um. »Was?«
    »Scheiße, was ist das da unten?«
    »Etwas, das gleich hier oben sein wird!«
    »Und vor was laufe ich gerade davon? Vor irgendeinem Spezialeffekt?« Selbstverständlich war das Blödsinn. Aber sie konnte nicht akzeptieren, was sie gesehen hatte. Sie wusste nicht mal, was sie gesehen hatte.
    »Nicht jetzt!« Er sah an ihr vorbei zur Rolltreppe.
    Besorgt folgte sie seinem Blick. Aus der Tiefe erklangen hastige Schritte auf den Eisenstufen. Noch war nichts zu sehen, aber Ash kam es vor, als wäre die Welt um sie verlangsamt worden, die Menschen, die Töne, ihr eigener Atem. Alles gerann zu schleppender Zeitlupe, während nur das Ding dort unten immer schneller wurde und die Schritte näher kamen.
    Sie eilte mit Parker durch den Haupteingang auf die Straße. Gegenüber warteten Taxis vor einem Zaun und hohen Bäumen.
    Wieder rannte Parker über die Fahrbahn, ohne nach rechts oder links zu schauen. Diesmal blieb sie bei ihm. Sie erreichten das vordere Taxi und rutschten auf die Rückbank. Als Parker die Tür hinter sich zuschlug, wurde Ash bewusst, wer diese Fahrt bezahlen würde. Immerhin mit seinem Geld.
    »Fahren Sie!«, blaffte Parker den Fahrer an.
    »Wohin?«
    »Einfach los.«
    »Shepherd’s Bush«, sagte Ash und nannte ihm eine Adresse. Sie wandte sich an Parker: »Das ist kein Trick, oder?«
    Kopfschüttelnd blickte er hinaus auf die Straße. Der Motor sprang an. Die U-Bahn-Station war ein ziegelbrauner Flachdachbau. Ein paar Menschen verließen das Gebäude, andere gingen hinein. Alles ganz normal.
    Die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar, die in diesem Moment aus dem Inneren ins gelbe Laternenlicht trat, trug ein dunkles, tailliertes Kostüm und Netzstrümpfe. Mit einer ruckartigen Bewegung wandte sie ihnen das Gesicht zu. Sie war sehr schön. Sehr wütend. Sie erinnerte Ash an eine Wespenkönigin, die aus ihrem benzingetränkten Nest hervorkroch.
    »Jetzt fahren Sie schon!«, rief Parker.
    Ash rechnete damit, dass der Mann sie hinauswerfen würde. Aber womöglich hatte er heute noch nicht genug verdient. Oder nur mehr Geduld als sie.
    Das Taxi rollte aus der Parklücke auf die Straße.
    Ash blickte durch die Heckscheibe. Die Frau war fort. Über dem Asphalt flirrte die Luft.
    Nichts als Abgase.

10.
    In einem anderen Land steht ein Mann, der in Wahrheit kein Mann ist, vor dem Schaufenster einer Kunstgalerie. Licht fällt auf den Bürgersteig. Im Inneren glitzert es auf den Stacheln bizarrer Metallskulpturen.
    Er trägt einen weißen Anzug und stützt sich mit beiden Händen auf den Knauf eines Gehstocks. Unter dem Saum der maßgeschneiderten Hose schauen seine nackten Füße hervor, den Stock hat er genau in der Mitte platziert. Er weiß Symmetrie zu schätzen. Schuhe verabscheut er, aber würde man ihn danach fragen, so könnte er keine Antwort geben. Er hat die Gründe vergessen, wie so vieles, das über die Jahrtausende an Bedeutung verloren hat.
    Was in London geschehen ist, weiß er längst, und jetzt gerade malt er sich die Konsequenzen aus. Schwelgt in der Vorstellung kommenden Blutvergießens. Denn Blut wird fließen, das steht fest. Es wird Strafen geben und Rache.
    Das Metall der Skulpturen schimmert wie Messerklingen.

11.
    Ashs Wohnung war nicht Ashs Wohnung, aber das behielt sie für sich.
    Das Zwei-Zimmer-Apartment befand sich im zweiten Stock eines schmucklosen Mietshauses mit Blick auf einen Kreisverkehr und eine Fußgängerunterführung. Nachmittags, wenn die Angestellten aus der Innenstadt nach Hause fuhren, wurde es hier voll und laut. So spät am Abend aber kamen nur vereinzelte Wagen vorbei. Aus einem benachbarten Fenster drang indische Popmusik.
    »Da steht jemand auf Bollywood«, sagte Parker.
    »Einer der Nachbarn. Er muss von morgens
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