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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix
Autoren: Kai Meyer
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ihnen mehr bedeutet als ihre eigene.
    Seine Lügen haben Macht.
    Und keine ist mächtiger als diese eine.
    »Applaus für Monsieur Libatique!«, ruft der Junge erneut, und diesmal muss Libatique beinahe lächeln. Über die Absurdität. Die Theatralik. Den Bombast und das Pathos.
    Wie einfach es am Ende ist.
    Libatique steht ganz still, als alle ihn ansehen.
    Dann brechen sie in Jubel aus und ihre Liebe trifft ihn wie ein Blitzschlag.

68.
    Parker blickte von seinem erhöhten Platz auf Libatique hinab und fragte sich, ob er mehr sah als alle Übrigen. Nein, nicht mehr. Nur etwas anderes.
    Epiphany war freigekommen. Ash zog sie an sich und barg das Gesicht des blonden Mädchens an ihrer Schulter, schützte sie vor der Enge, die zugleich eine Flucht unmöglich machte. Auf eine Weise, die Parker nicht in Worte fassen konnte, berührte ihn dieser Anblick. Er erfüllte ihn mit Mitgefühl für Epiphany, aber noch mehr mit tiefer Zuneigung für Ash.
    All die Aufmerksamkeit, die gerade noch ihm gegolten hatte, richtete sich auf Libatique. Es war eine dieser Wogen, die an diesem Abend schon mehrfach durch das Gedränge gerast waren. Die Gefühle aller konzentrierten sich wie durch ein Brennglas auf einen einzigen Punkt.
    Libatique legte den Kopf in den Nacken und versteifte sich. Das Glühen in seinen Augen war bereits erloschen und für einen Moment schien sich etwas wie Frieden über seine Züge zu breiten. Wer es nicht besser wusste, hätte meinen können, Libatique genieße den aufbrandenden Jubel wie jemand, der zu lange darauf hat warten müssen.
    Die Menge bewegte sich von überall her auf ihn zu. Gleich neben ihm klammerte sich Epiphany an Ash, die ihr Bestes tat, um dem Ansturm standzuhalten. Parker hatte Angst um Ash und rief ihren Namen.
    Zugleich ging mit Libatique eine Veränderung vor, die womöglich nur Parker sah, ein Nachglühen der Vision von vorhin, ein Blick durch eine Tür, die einmal aufgestoßen worden war und sich nun langsam wieder schloss. Wie durch einen Spalt erhaschte er einen Blick auf das, was jenseits der Wirklichkeit vorging, dort, wo der wahre Libatique zu Hause war.
    Der dunkle Rauch verließ Libatique in einem druckvollen Schub, presste sich durch seine Augen, seinen Mund, durch die Nasenlöcher und die Ohren, unter seinen Fingernägeln hervor und dann durch alle Poren. Sekundenlang sah er aus wie ein Baum mit verästelten schwarzen Zweigen: Stränge aus Finsternis brachen verdreht und gezwirbelt aus ihm hervor und stoben davon, das eine Ende noch in ihm, das andere schon anderswo, drüben, jenseits der Tür. Niemand reagierte darauf, nur Parker sah die Erscheinung atemlos an und spürte zugleich, wie etwas auch aus ihm herausgerissen wurde, jenes Erbe seines Vaters, das ihn süchtig nach Ruhm gemacht hatte, eine Faser Libatiques, die auf ihn übergegangen war und nun mit ihrem Ursprung verging.
    Übrig blieb nur die leere Hülle, ein älterer, unscheinbarer Mann im Anzug, der mit einem Lächeln die Ehrenbekundungen seines Publikums zu genießen schien. Dann lösten sich die Nähte und Fugen dieses Trugbilds und Libatiques Körper faltete sich auseinander wie ein Origami-Kunstwerk, das in seinen zweidimensionalen Urzustand zurückgeführt wird. Er wurde zu einem Gebilde aus vielfachen Ecken und Falzen, die ein ums andere Mal auseinanderklappten, bis am Ende eine feine Schicht aus Dunst entstand, die über der Menge zur Decke aufstieg und in Mauerwerk und Beton verschwand.
    Das Publikum nahm nichts von alldem wahr. Noch immer drängten alle auf die Stelle zu, an der Libatique gestanden hatte, der vermeintliche Ghostwriter, der jahrelang unsichtbar gewesen war und sich jetzt erneut in Luft aufgelöst hatte. Nur jene in seiner unmittelbaren Nähe sahen ihn im einen Moment dastehen und im nächsten nicht mehr, während alle Übrigen noch nichts von seinem Verschwinden ahnten.
    Parker stieg vom Sessel hinab in den Tumult und bahnte sich einen Weg zu Ash. Sie ließ Epiphany los, wandte sich ihm zu und rief seinen Namen. Sie umarmten und küssten sich, fest aneinandergepresst von den drängelnden, quetschenden Körpern. Sie waren eingepfercht, gefangen, und doch fühlte Parker sich zum ersten Mal seit langem völlig frei.
    Von irgendwoher erklangen Sirenen, draußen vor den Notausgängen. Die ersten Menschen strömten hinaus und Lucien rief erneut von der Bühne, es werde keine Vorführung mehr geben und alle sollten nach Hause gehen.
    Parker und Ash blieben in enger Umarmung inmitten des
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