Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Säuglinge, Kleinkinder,demente ältere und geistig verwirrte Menschen besitzen nicht unbedingt in vollem Sinne ein Selbst-Bewusstsein. Sie spüren zwar die Inhalte ihrer Gefühle und Gedanken, denken aber nicht auf einer abstrakteren Ebene über sich nach und können sich auch nicht mit derselben Freiheit wie gesunde erwachsene Menschen dazu verhalten.
Moralische Verantwortung fängt jedoch erst mit dem Wissen an, dass ich jemand bin, der sich so oder anders verhalten kann – gegenüber anderen, die auch ein eigener Jemand sind. Das Recht, moralisch berücksichtigt zu werden, beginnt hingegen bereits da, wo jemand bewusste Empfindungen hat. Warum reite ich so darauf herum? Weil man die Frage, ob jemand berücksichtigt werden muss, nicht mit der anderen verwechseln darf, ob der andere selbst auch ein moralisches Wesen ist. Ein Tier, ein kleines Kind, ein dementer alter Mensch oder ein Mensch in einer extremen Krisensituation mögen nicht in der Lage sein, moralisch zu denken und verantwortlich oder zurechnungsfähig zu handeln. Trotzdem verlieren sie dadurch nicht ihren Anspruch darauf, selbst moralisch berücksichtigt zu werden. Es ist zwar sprachlich nicht besonders schön, aber von der Sache her sinnvoll, wenn in der Philosophie deswegen von moralischen Subjekten – das sind die moralischen Akteure – und moralischen Objekten gesprochen wird. Der Begriff «Objekt» bedeutet in diesem Zusammenhang nichts Abwertendes, sondern meint Individuen, auf die man Rücksicht nehmen soll.
Zum Beispiel gibt es verwirrte Menschen, denen Mein und Dein so unklar sind, dass man in ihrer Begleitung ständig achtgeben muss, dass sie nicht im Supermarkt plötzlich etwas mitgehen lassen. Vielleicht schimpft man mit ihnen, weil man genervt ist, aber im Grunde weiß man: Sie verstehen es nicht und können nichts dafür, sind in diesem Sinne also keine moralischen Subjekte. Moralische Objekte sind sie dennoch, und zwar auch in exakt denselben Bereichen.Selbstverständlich dürfen wir einem verwirrten Menschen nichts stehlen, auch wenn die betreffende Person das Konzept «Stehlen» nicht voll versteht und vielleicht nicht einmal bemerkt, was vor sich geht. Ein moralisches Objekt muss weder Kenntnis haben von dem, was moralisch vor sich geht, noch zur Einsicht in dieses fähig sein; das hebt die Pflichten des moralischen Subjekts ihm gegenüber nicht auf.
Die Menge der moralischen Subjekte und Objekte ist also nicht deckungsgleich; die Zugehörigkeit zu der einen Menge hängt nicht von der zur anderen ab; und die Zahl der moralischen Akteure ist um etliches geringer als die ihrer potentiellen Gegenüber. Es gibt viel mehr Wesen, auf die ich Rücksicht nehmen muss, als solche, die auf mich Rücksicht nehmen müssen. Unter anderem deshalb sind auch Argumente wie «Menschen dürfen auf Löwen-Safari gehen, denn Löwen sind ja selbst Jäger», schlicht falsch: Die Menge der Subjekte und Objekte ist ohnehin unterschiedlich groß, und meine Pflicht gegenüber X hängt nicht davon ab, ob X auch dieselbe Pflicht mir gegenüber hat (oder ob er sie erfüllt).[ 16 ]
Doch verstärkt diese klare Trennung zwischen moralischen Subjekten und Objekten nicht wieder die (zu drastische) Grenze zwischen Mensch und Tier? Gibt es nicht auch im Tierreich Empathie, die Sorge der Mütter für ihre Jungen, sogar gegenseitige Hilfe zwischen Angehörigen verschiedener Spezies? Tatsächlich zeigt die neuere Verhaltensforschung – sowohl unter Laborbedingungen als auch im Freiland –, dass es bei vielen Tieren das Phänomen der Empathie gibt. Der niederländisch-kanadische Verhaltensforscher Frans de Waal berichtet von einem Affen in einem Zoo, der einen zu Boden gestürzten Vogel auf den höchsten Ast eines Baums brachte und von dort weiterfliegen ließ, von einer Elefantenkuh, die dem Jäger, der ihr nachstellte, zwar zunächst (in Selbstverteidigung) ein Bein brach, ihn dann aber in den Schatten eines Baums transportierte. Von einer Robbe, die einen alten Hund ans Ufer schob, und von einemBuckelwal, der sich nach seiner Rettung bei dem Taucherteam bedankte.[ 17 ] Bei einer Gruppe von Laborratten konnte ein Forscherteam aus Chicago altruistisches Verhalten nachweisen: Wenn eine Ratte in einer durchsichtigen Röhre gefangen gehalten wurde, wurde eine andere Ratte, die dies von außen sah, unruhig; und wenn sich das Gefängnis der einen öffnen ließ, indem die andere einen Hebel betätigte, dann tat diese das auch (und zwar ohne Training oder Belohnung).[ 18
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