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Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Titel: Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Autoren: Hellmut Flashar
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zurück. Aber er will deren Relativierung durch die Sophistik überwinden, indem er sie radikal hinterfragt. Damit ist ein ethischer Anspruch verbunden, der den ganzen Menschen in seinem Innersten betrifft. In einem seiner frühesten Dialoge lässt Platon den bekannten Politiker Nikias zu Lysimachos sagen:
Du scheinst mir gar nicht zu wissen, dass, wer einmal im Gespräch Sokrates ganz nahe gekommen ist und sich auf eine Unterredung mit ihm eingelassen hat, unvermeidlich, mag er auch am Beginn der Unterredung von etwas ganz anderem ausgegangen sein, unentwegt von ihm im Gespräch herumgeführt wird, bis er dahin gerät, über sich selber Rechenschaft abzulegen, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche Weise er sein bisheriges Leben verbracht hat, und dass, wenn er einmal dahin geraten ist, Sokrates ihn nicht eher loslassen wird, bis er das alles gut und gründlich geprüft hat ( Laches 186 E).
    Was hier über Sokrates gesagt wird, gilt auch für Platon selber. Das wirklich gute Leben hat einen Prozess der Selbstprüfung durchlaufen. Was man für Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit hielt, wird auf den Prüfstand gestellt. Diesen Prozess führt Platon in den frühen Dialogen immer wieder vor; er führt die Tugenden auf ein Wissen zurück, diskutiert die sophistische Frage der Lehrbarkeit der Tugend (Menon) und gibt unter allen Tugenden der Gerechtigkeit eine umfassende Vorrangstellung, auch hierin eine alte Tradition aufgreifend: «In der Gerechtigkeit ist zusammengefasst die ganze Tugend» (Theognis 147). Die zentrale Stellung der Gerechtigkeit, wie sie in dem großen Werk Staat (Politeia) analysiert wird, liegt bei Platon darin begründet, dass alle äußeren Bekundungen dieser Tugend zurückgeführt werden auf die innere Ordnung der Seele und die Harmonie ihrer einzelnen Teile und damit auf ein Gefüge des inneren Menschen. Zugleich hat die Gerechtigkeit als Ordnung der Seele eine ontologische Grundlage. Sie ist «eine einzige Idee»Rep. 445D); ihr stehen unendlich viele Entartungen gegenüber, aber auch Formen der Annäherung.[ 3 ] Da die Tugenden auf Wissen beruhen, hängt ihre Kenntnis von der Einsicht nicht nur in die Struktur der Seele, sondern des Seins im Ganzen ab. Nur wer – im Bilde des Höhlengleichnisses formuliert – aus der Höhle durch eine Umkehr von den gewohnten Erscheinungen heraustritt und Sein von Schein, Licht von Schatten unterscheiden kann, tritt in eine Sphäre ein, in der es sich zu leben lohnt ( Symposion 211D). Denn dann sieht er «das Gute selbst» oder die «Idee des Guten», die zugleich als «das Eine» die höchste ontologische Instanz darstellt. Nur von daher lassen sich einzelne Bekundungen von Tugenden in der Welt der Erscheinungen angemessen erfassen. Die sokratische Maxime eines geprüften Lebens ( Apologie 38A: «ein ungeprüftes Leben ist nicht lebenswert») mit der emphatischen Forderung: «Du musst dein Leben ändern» findet bei Platon ihre Fortsetzung und Abrundung in der ontologischen Fundierung der Ethik, die zur vollen Verwirklichung der Tugenden dem Einzelnen eine geradezu philosophische Einsicht abverlangt. Die platonische Ethik steht so auf einer metaphysischen Grundlage. Dieser ganze – hier nur andeutend skizzierte – Traditionsstrom ethischer Anschauungen im frühen Griechentum und bei Platon fließt in die aristotelische Ethik wie in ein Sammelbecken ein und wird dabei neu geformt, auch unter Einschluss einer stupenden Fülle an unmittelbaren Beobachtungen über das Leben des Menschen im Zusammensein mit anderen Menschen.
    D IE K ONZEPTION
    Die Grundkonzeption ist einfach und natürlich. Es ist keine Pflichtethik, keine Ethik, die die Umkehr von allen gewohnten Anschauungen fordert, sondern eine Ethik ohne Metaphysik für den normalen Bürger, der ohne allzu große materielle Sorgen einfach aufzufindende Tugenden verwirklichen kann.
    Aristoteles formuliert eine aus der Erfahrung und der communis opinio gewonnene Voraussetzung: Der Mensch ist ein strebendes Wesen. Jedes Können, jede Handlung und Entscheidung ist zielgerichtet, und zwar auf ein Gutes. Das Gute muss nicht ein wirkliches, sondern kann auch ein scheinbar Gutes sein. Der Einbrecher strebt auch nach einem Gut, aber seine Beute ist nicht Ergebnis ethisch relevanten Handelns. Überlegtes und planvolles Handeln ist zielgerichtet. Das Ziel ist ein Produkt des Handelns oder liegt im Handeln selber. Es gibt eine Vielzahl von Zielen, je nach der Art der Tätigkeit. Bei der Medizin ist es die
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