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Arbeit und Struktur - Der Blog

Arbeit und Struktur - Der Blog

Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Nachricht haben wir nicht für Sie, Dr. Vier kommt um zwölf. Noch fast drei Stunden. Ich versuche es weiter mit Arbeit. Eine Stunde geht es noch. Dann nicht mehr.

    Kurz nach zwölf ruft Dr. Vier an. Nein, er war das nicht mit dem Anruf, Befund liegt auch nicht vor. Sollte der schon vorliegen? War das MRT nicht erst Montag? Dann bis Donnerstag.

    Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.

    28.3. 2013 4:31

    Noch früher aufgestanden als sonst, um das Morgenrot zu sehen, wenn es eines gibt, aber es gibt keins. Wolkendecke, dünner Schneefall. Schwarzer Tee und Lektüre: Last Day of the Last Furlough. Wie er auf dem Boden sitzt zwischen seinen Büchern: Sir, I’ve brought my books. I won’t shoot anybody just yet. You fellas go ahead. I’ll wait here with the books.

    28.3. 2013 9:10

    Im Infusionszimmer protokolliere ich die Minuten, sinngemäß den Vorgang des Protokollierens selbst. Blutdruck, Nadel, Blutbild, welcher Arm, 130 zu 105, und wie fühlen Sie sich? Ausgezeichnet, und Sie? Das genau vorgeschriebene rituelle Gespräch vor jeder Infusion.

    Wobei der wichtigste Wert noch fehlt: Wenn das Avastin keine oder nur minimale Wirkung gezeigt hat, und auch wenn der Angiogenesehemmer das Gliobastom quer durchs Hirn gestreut hat oder anderswo eine Rakete gestartet ist, kann man sich die Infusion auch sparen und die 7000 Euro gleich dem Kinderhilfswerk spenden.

    28.3. 2013 9:40

    Das Fax liegt vor Dr. Vier auf dem Tisch. Der Gesichtsausdruck meldet sofort: keine Katastrophe. Das Avastin wirkt. In diesem Teil mehr, dort weniger. Um die Resektionshöhle, wo die Schrankenstörung von MRT zu MRT größer geworden war – von zuletzt fünf bis über sechs Zentimeter – ist ein Rückgang im Bereich Dreikommairgendwas bemerkbar, Ventrikel weitgehend unverändert usw.

    Der spiegelbildlich zum Glioblastom gelegene Tumor links parietal hingegen – wir nennen ihn jetzt zum ersten Mal Tumor – ist langsam weiter gewachsen und hat nun eine Ausdehnung von sechs mal drei bis vier Zentimeter erreicht, der Wachstumsgeschwindigkeit nach zu urteilen ein Astrozytom Grad II oder III. Ja, vielleicht operabel, sagt Dr. Vier, aber wozu, macht doch keine Probleme, oder? Von der Lage her müßte das in die Motorik rechts eingreifen, tut es aber nicht. Und solange es das nicht tut, kann es uns – Ihnen – egal sein.

    Eine Prognose gibt es nicht, eine allgemeine Statistik auch nicht mehr. Nach drei OPs, zwei Bestrahlungen, drei verschiedenen Chemos ist man seine eigene Statistik.

    Vor drei Jahren noch war ich ein winziger Punkt in einer Punktwolke, reine Mathematik, kein Individuum, das hatte mir gefallen. Jetzt weiß ich nicht mehr. Keiner weiß.

    Avastin hilft manchmal ein paar Wochen, manche hält es Monate stabil. Im Virchow gibt es eine Frau, die Avastin seit vier Jahren bekommt. Das ist möglich. Und morgen mit Kopfschmerzen aufwachen und übermorgen tot sein, auch.

    28.3. 2013 15:56

    Ich arbeite, ich schreibe. Dann rufe ich C. an, weil mir bewußt geworden ist, was der Befund bedeutet. Ich habe Käsekuchen für uns gekauft, sage ich heulend. Sie mag leider keinen Käsekuchen. Auch Mohnkuchen mag sie nicht. Wußte ich nicht, ich war nie gut in sowas.
    Ich kann dir ein Stück Nußkuchen auftauen, sage ich, ja, Nußkuchen mag sie.

    29.3. 2013

    Schneegestöber seit dem ersten Lichtstrahl und schon zuvor.

    15.4. 2013 19:45

    Es ist Sommer geworden gegen meinen Willen. Meine erste Radtour, überall Gerüche, Blaustern am Plötzensee, Abendrot in den Zweigen. Kanal, Kanal, Kanal, über die Mäckeritzbrücke in den Jungfernheideweg, Siemensdamm, Orientierungsverlust, wie erwartet. Einstündiges Herumgegurke zwischen Häusern, sommerlich aufgeheizten Fassaden, Dönerbuden, U-Bahnstationen, Leuchtreklame vor dunklem Himmel, eine Welt wie früher, wie im richtigen Leben, immer neue Gerüche, von C. telefonisch begleitet: Du fährst schon wieder in die falsche Richtung, steig ab, Mann, ja sicher, dreh das Rad um 180 Grad, zurück zum Siemensdamm, so ein schöner Sommer, so eine schöne Brücke, was für eine schöne Fahrt in einer solchen Nacht, in einer solchen Wärme, ich wußte, daß ich im Sommer nicht sterben wollte. Geht’s dir gut? Ja, dir auch?

    17.4. 2013 13:30

    Blauer Himmel. Ich stehe seit Tagen in meiner von der Sonne aufgeheizten Wohnung, tue nichts und warte auf den Tod.

Neununddreißig : 

    19.4. 2013 17:26

    Den ganzen Tag lang über nichts anderes als darüber nachgedacht, das Blog einzustellen,
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