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Anna und Anna (German Edition)

Anna und Anna (German Edition)

Titel: Anna und Anna (German Edition)
Autoren: Charlotte Inden
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hat einen Vogelknochen in das Schubfach gelegt.
    »Denn ein Piratenversteck ohne Gerippe?«, hat sie gesagt. »Das geht gar nicht.«
    Mit dem hohlen Knöchelchen soll ich nun jeden Brief beschweren. Beim ersten Mal habe ich dabei gedacht: armes Tier. Mit nur einem Flügel wirst du nicht weit kommen.
    Und ich fühlte mich ihm sehr verbunden.
     

     
    Mein liebes linkes Bein,
     
    die Nächte sind am schlimmsten. Da träume ich nämlich von dir.
    Ich träume dann, dass du noch da bist. Ich fühle dann wieder, wie es ist, mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen. Oder mit beiden Beinen in die Luft zu springen. Je nachdem. Ich höre wieder, wie meine Nylonstrümpfe leise knistern, wenn ich ein bestrumpftes Bein langsam über das andere schlage. Und ich sehe wieder, wie Herren mit weiß gestärkter Hemdbrust und schwarzem Kummerbund die Blicke nicht von mir und meinen Beinen wenden können.
    Ich träume von all den Orten und all den Ländern, die wir zusammen besucht haben. Und von all den Bühnen dieser Welt, auf denen wir geglänzt haben.
    Weißt du noch?
    Ich weiß es. Nachts. Im Traum.
    Und manchmal ist mein Kissen nass, wenn ich aufwache und der Traum vorbei ist.
     

     
    Oh, wie soll ich nur beginnen?
     
    Anna hat mir deinen Brief gebracht.
    Ich konnte es erst gar nicht glauben. Das hat sie gesehen.
    »Soll ich dich einmal kneifen?«, fragte sie.
    »Ja, bitte«, antwortete ich schwach.
    Danach war dein Brief immer noch da. Das erste Lebenszeichen seit fünfzig Jahren.
    Ich habe ihn erst geöffnet, als Anna wieder aus dem Zimmer war. Und meine Hände haben dabei ein bisschen gezittert. Das kann ich dir aber nur schreiben, weil du das hier geschrieben hast:
     
    Anna, die Blume.
     
    Anna,
    du stehst auf deinem einen Bein im Leben
    wie die Blumen
    so schön.
    Und Blumen liebt jeder,
    ich ganz besonders.
    Vor allem die eine.
    Vor allem dich.
     
    Ich wusste nicht, dass man schweben kann, wenn man einbeinig ist. Es ist ein herrliches Gefühl. Ich hatte schon fast vergessen, wie herrlich.
    Ich danke dir dafür.
     

 

     
    Auch die einbeinige Seele meiner Enkelin hat Flügel bekommen. Es muss so sein, denn Anna schwebt nur noch durchs Haus.
    Wer ist es denn?, wollte ich sie nach dem Abendbrot fragen. Aber da war sie schon zu mir gekommen und hatte es mir ins Ohr geflüstert: Marie-Luise heißt der Engel, der meiner Anna das Fliegen beigebracht hat. Anna hat jetzt keinen Spielkameraden mehr, sondern eine Busenfreundin. Wann sie wohl anfangen werden, ständig zu kichern und ihre Röcke zu tauschen? Was meinst du?
     

     
    Gestern sollten wir zum Bäcker. Weil das mit dem Supermarkt so gut geklappt hat, sagte Bella.
    Wild mit den Augen rollend, hinkte ich hinter Anna her.
    »Früher haben wir unser Brot noch selbst gebacken«, schimpfte ich, konnte aber nicht umhin zu bemerken, wie gelb das Herbstlaub in der Sonne leuchtete und wie strahlend blau der Himmel war.
    »Hast du?«, fragte Anna.
    »Nein«, seufzte ich. »Natürlich nicht. Dafür hatte ich keine Zeit.«
    »Ja«, sagte sie sehnsüchtig. »Du hast immer nur die Nächte durchgetanzt und jeden Mann in dich verliebt gemacht.«
    »Hm. So ungefähr.«
    »Kannst du mir zeigen, wie das geht?«
    »Was? Tanzen?« Ich klopfte mal wieder mit meinem Stock gegen die Prothese. »Schwierig, mein Herz.«
    »Das Tanzen kriege ich schon hin, Oma«, sagte sie wegwerfend. »Kein Problem. Ich meinte das mit den Männern.«
    Ich betrachtete sie, wie sie da stand, lässig auf das karierte Einkaufswägelchen gestützt, die Haare wild, die Jeans mit Löchern über dem rechten Knie.
    »Ich befürchte«, sagte ich, »dass du das mit den Männern genauso problemlos hinkriegen wirst.«
    »Freibeuterehrenwort?«
    »Freibeuterehrenwort.«
     

     
    Beim Bäcker trafen wir alte Bekannte.
    »Meine Mama hat gesagt, deine Oma lügt«, zischte die Göre mit den Rattenschwänzen meiner Anna zu, während ich das Brot aus geschrotetem Korn bezahlte.
    Anna wurde fuchsteufelswild, direkt da zwischen Hefeteilchen und Sahnetorten.
    »Meine Oma lügt überhaupt nie!«, brüllte sie.
    Ich schämte mich ein bisschen. Natürlich nicht, weil das Kind hier im Laden so herumschrie. Anna hat schließlich eine sehr schöne Stimme. Sie wurde auch bewundernswert laut und ließ die anderen Kinder zurückweichen. Nein, ich schämte mich, weil Anna für mich zur Lügnerin wurde.
    Also mischte ich mich wieder ein.
    »Stimmt genau«, sagte ich. »Ich versuche nur herauszufinden, wer von euch etwas auf dem Kasten
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