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Anleitung zum Müßiggang

Anleitung zum Müßiggang

Titel: Anleitung zum Müßiggang
Autoren: Tom Hodgkinson
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Mendelejew träumte das Periodensystem der chemischen Elemente, nachdem er an seinem Schreibtisch eingeschlafen war. J. K. Rowling starrte gerade aus einem Zugfenster, als ihr Idee, Handlung und Figuren für Harry Potter in den Sinn kamen.
    Ein herausragendes Beispiel für das Eindringen der Welt der Träume in unser Universum sind Lewis Carolls »Alice«-Geschichten vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie sind ein Meisterwerk der Imagination, in dem die alltägliche Welt auf den Kopf gestellt und von innen nach außen gestülpt ist. Die Idee der »Alice«-Bücher war, darzustellen wie absurd einem Kind die Welt der Erwachsenen erscheint, wie voll von verrückter Logik und sinnlosen Regeln. Unsere Dichter waren es, die die Schranken zwischen Traum und Leben niederrissen – eine Definition von Dichtung könnte »das Zusammentreffen von Traum und Realität« sein. Ein großes Orchester spielen zu hören, erfüllt uns mit der Freude über das Erlebnis, die Traumwelt eines anderen in die reale Welt eintreten zu sehen.
    Die Lebenskunst ist fraglos die Kunst, Träume und Wirklichkeit zusammenzubringen. Das ist für mich der wahre Geist der Anarchie; jedes nährt sich vom anderen in einem glücklichen Kreislauf unserer eigenen Schöpfung. Es sollte einen Dialog geben zwischen den beiden Welten, Harmonie. Ihre Trennung in zwei antagonistische Felder menschlicher Erfahrung, in sich gegenseitig ausschließende Lebensweisen, ist eine Tragödie und spiegelt sich auch in anderen Lebensbereichen als »Sensibilitätsdissoziationen« wider. Glückliche Ehen sind zerbrochen. Arbeit und Leben wurden geschieden, Kunst und Wissenschaft ebenfalls. Menschen wurden von ihren Gedanken getrennt; die Spezialisten haben das Steuer übernommen.
    In der Welt der Antiträume haben die karrieristischen Experten kleine Welten erobert und andere ausgeschlossen, es sei denn, sie rentieren sich. Die Welt des Geistes ist im Besitz von Psychoanalytikern, die Welt der Regierung im Besitz politischer Parteien, die Welt der Nahrung im Besitz von Supermärkten und ihren bezahlten Promotern, den Promi-Chefköchen. Eine ganze Welt ist in Millionen kleine Welten zerteilt worden, die alle miteinander im Wettstreit liegen. Das führt zu einem Gefühl der Ohnmacht und Stupidität. Wir folgen fremden Regeln und bitten andere Leute um Hilfe. Wir sind hilflos, und so bezahlen wir andere für ihren Rat. Doch »Träumen ist gratis«, sagte Debbie Harry. Es liegt vollkommen außerhalb der kommerziellen Welt. Niemandem ist es gelungen, mit Träumen Geld zu machen, wenn man von den Honoraren absieht, die Sigmund Freud und seinen Schülern gezahlt wurden. Es gibt keine Traumgeräte oder Traummaschinenfabriken. Vielleicht bewerten wir Träume eben deshalb so niedrig, weil sie gratis sind. Wir sind mehr an unseren neuen Autos als am Inhalt unserer Köpfe interessiert.
    Auch die Liebe ist eine Art Traum, das fantasievolle Traumbild eines zukünftigen Zustands der Vollkommenheit. Wenn wir verliebt sind, projizieren wir unsere Hoffnungen auf ein besseres Leben auf das Objekt der Liebe. Wir glauben, der andere wird uns helfen, diesen Traum wahr werden zu lassen. Coleridge beschrieb dieses Gefühl als ein »instinktives Verlangen nach diesem unbekannten Glück«. Jeder, der einmal verliebt war, und sei es nur kurz, kennt diese erhebende und entrückende Wirkung auf den Geist; es versetzt uns in eine Art Tagtraum, einen wunderbaren Schwebezustand. Es ist auch ein Zustand, in den wir uns versetzen und aus dem wir uns (normalerweise) zurückziehen können. Wir können mühelos mehrere Stunden vergessen, dass wir verliebt sind. Dann erinnern wir uns an das Gefühl, bewegen es in unserem Herzen, lassen es sich entwickeln, überfließen, genießen sein Vorhandensein. Es ist wie ein Traum, insofern als es ein vorübergehender Zustand und kein Dauerzustand ist. Wir können uns entscheiden, es zu erleben, wir können das Gefühl hereinbitten und uns an ihm erfreuen. Dann können wir es beiseite schieben und die Gasrechnung bezahlen. Beziehungen zerbrechen, weil keine der beiden Seiten der Liebe – weder das zukünftige Glück noch der verträumte Schwebezustand – auf lange Sicht einzutreten scheinen. Wenn uns vielleicht klar würde, dass die Liebe ein Traum ist, könnten wir sie genießen und mit ihr leben, ohne zuzulassen, dass sie uns erst verzaubert und dann enttäuscht.
    Von besonderer Bedeutung für den Müßiggänger, der nach Rohmaterial sucht, aus dem er seine Werke formen
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