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Anleitung zum Müßiggang

Anleitung zum Müßiggang

Titel: Anleitung zum Müßiggang
Autoren: Tom Hodgkinson
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in der Presse, auf der Kanzel und auf ihren politischen Podien wickeln ihn mit Schmeicheleien ein, und dieser blöde Narr von heute … wirft sich in die Brust und platzt schier vor Stolz. Doch kaum ist der Tag des Possenspiels und des Narrenparadieses vorbei, brechen die Herren – die während dieses Tages nur klammheimlich lächeln – in höhnisches Gelächter aus – wenn auch vom Sklaven ungehört –, legen ihm erneut die Ketten an, und wieder hört er nur das Knallen der Peitsche des Hungers und der Sklaverei … Der Maifeiertag ordnet die Truppen für die bevorstehende Proklamation der Unabhängigkeit der Arbeit! Er ist der Vorbote der Sozialen Revolution!
    Diese sozialistische Revolution kam nie, und heute arbeiten die Amerikaner 2000 Stunden im Jahr, was nach meiner Rechnung etwa neun Stunden pro Tag sind. In dem Buch The Overworked American legt Juliet Schor dar, dass die Amerikaner jährlich einen ganzen Monat länger arbeiten als vor dreißig Jahren.
    Unsere schäbige Einstellung uns selbst gegenüber zeigt sich an einem Problem, das wir haben, wenn wir uns freinehmen wollen – dem schlechten Gewissen. Nietzsche beschreibt es in Zur Genealogie der Moral (1887) als ein Schuldgefühl (im Englischen hat das Wort dafür, guilt, dieselbe Wurzel wie guilder (Gulden) und Gold). Wir haben ein schlechtes Gewissen, uns frei zu nehmen, als täten wir nicht unsere Pflicht für den sozialen Organismus. Der freie Tag muss einen gewissen Nutzwert haben, es genügt nicht, ihn um seiner selbst willen zu nehmen. »Ich brauche wirklich Urlaub«, sagen wir und meinen damit, dass wir uns für eine Weile ausruhen müssen, um mit gestärkten Kräften an unsere Arbeit zurückzukehren. Im Jahr 1882 verurteilte Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft diese aufkommende Selbstzerfleischung und Genügsamkeit:
    Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Blute eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre atemlose Hast der Arbeit – das eigentümliche Laster der neuen Welt – beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas »versäumen könnte«. »Lieber irgendetwas tun als nichts« – auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast der Arbeitenden zugrunde gehn: so geht auch das Gefühl für die Form selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zugrunde. Der Beweis liegt in der jetzt überall geforderten plumpen Deutlichkeit , in allen den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und Fürsten – man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonien, für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles Otium. Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und so gibt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur »gehen lassen«, sondern lang und breit und plump sich hinstrecken. Gemäß diesem Hange schreibt man jetzt seine Briefe : deren Stil und Geist immer das eigentliche »Zeichen der Zeit« sein werden.
    Gibt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müdegearbeitete Sklaven sich zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der »Freude« bei unseren Gebildeten und Ungebildeten! Oh über diese zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits »Bedürfnis der Erholung« und fängt an sich vor sich selber zu schämen. »Man ist es seiner Gesundheit schuldig« – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heißt zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen
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