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Angstspiel

Titel: Angstspiel
Autoren: C. Bertelsmann
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wohnen. Meine Eltern und Julchen kommen erst in fünf Tagen wieder, nämlich am Dienstag. Julchen hat für Montag und Dienstag noch eine Schulbefreiung. Diese fünf Tage möchte ich protokollieren.«
    Er will mich halten wie ein Versuchskaninchen im Labor. Mir wird abrupt schlecht.
    »Meine Eltern werden versuchen, Tante Ines zu erreichen, oder Tante Ines wird sich bei meinen Eltern melden. Wenn sie erfahren, dass ich weg bin, suchen die mich. Dann hast du ein Problem.«
    »Auf dem Küchentisch deiner Tante liegt ein Brief von deinen Eltern. Dass die Familie kurzfristig einen gemeinsamen Urlaub macht, nur Mama, Papa und die Töchter, damit alle wieder zusammenfinden. Und dass ihr Zeit für euch braucht und euch meldet. Deine Eltern haben eine Mail von Tante Ines bekommen. Dass es dir schlechter geht, als alle befürchtet haben, und dass du ganz dringend Distanz brauchst. Tante Ines hat gemeint, dass es am besten wäre, du würdest einfach mal in Ruhe gelassen, um dich wieder fangen zu können. Linda, keiner vermisst dich. Mach dir keine Hoffnung.«
    Wahrscheinlich hat er recht. Ich bin allein. So wie man alleine ist, wenn man mitten in der Nacht aufwacht und die Welt drumrum schläft. Wenn man das Gefühl hat, man ist der einzige Mensch auf der Welt.
    Ich gucke ihn vorsichtig an. Philipp starrt gerade auf den Monitor, sucht irgendwas. Von ganz unten kommt eine Erinnerung hoch. Philipp hatte Ärger mit seinen Eltern, hat Julchen gesagt. Patienten hätten sich über ihn beschwert. Julchen hatte sich über diese alten Menschen
echauffiert, die es auf ihren weltbesten Bruder abgesehen hatten. Wer weiß, was der noch mit denen gemacht hat. Wer weiß, zu was Philipp in der Lage ist. Würde er mich nur psychisch unter Druck setzen? Oder mir auch physische Gewalt antun? Mich foltern?
    Vor ein paar Stunden hätte ich sofort eine Antwort darauf gehabt. Jetzt nicht mehr. In meine Überlegungen hinein klingelt ein Handy. Mein Handy. Philipp ist sichtlich irritiert. Er hatte wohl nicht mitbekommen, dass ich es aus der Seitentasche rausgeangelt hatte, während er schon ausgestiegen war.
    »Wer ist das?«
    Er hält auffordernd die Hand hin, ich ignoriere das und will drangehen, aber er reißt es mir aus der Hand. Auf dem Display habe ich vorher »LUISE« gelesen. Philipp starrt auf den Namen.
    »Meine Fresse, ihr Mädels seid aber auch treu. Das ist ja gruselig.«
    Ich sehe, wie seine Gedanken sich jagen. Offenbar beschließt er, dass es schlimmer für seinen Plan ist, wenn ich nicht drangehe. Wahrscheinlich befürchtet er, dass Luise dann Tante Ines anruft. Er guckt mich beschwörend an.
    »Linda, für Luise bist du mit Tante Ines unterwegs. Dir geht es besser, ab du willst deine Ruhe. Sag ihr das und fertig. Mach jetzt keinen Mist, sonst müsste ich echt böse werden.«
    Ich möchte nicht wissen, was Philipp unter »echt böse« versteht. Ich drücke auf den grünen Hörer.
    »He, Luise. Alles gut?«
    »Nein. Seit du weg bist, ist nichts gut. Du fehlst mir. Ich möchte, dass du zurückkommst.«
    Ich gucke in Philipps angestrengtes Gesicht. Offenbar versucht er zu erahnen, was Luise sagt.

    »Mir geht es schon besser.« In meinem Kopf rasen die Gedanken. Ich sage langsam: »Ines und ich amüsieren uns wie Bolle.«
    Ich höre und sehe, wie Luise stutzt.
    Wie Bolle.
    Ich höre wie irgendetwas in ihr zuckt.
    »Wie Bolle?«
    Ihre Stimme ist alarmiert, irritiert.
    »Genau«, sage ich und lache erleichtert.
    Philipp zischt von der Seite: »Du sagst jetzt fröhlich ›Tschüss‹ und legst auf.« Es ist ein Befehl.
    »Mach’s gut, tschüss, Luise«, trällere ich und lege das Handy weg.
    Philipp sieht zufrieden aus. »Brav.« Er zieht mit einem Ruck ein Stück Nagelhaut mit den Schneidezähnen weg. Das Nagelbett an seinem Daumen fängt an zu bluten. Er saugt es auf.
    »Und jetzt?«, frage ich leise.
    »Jetzt beginnt die nächste Runde in unserem Spiel«, sagt Philipp und er sieht aus, als hätte er schon eine Pokerpartie gewonnen und wartete jetzt auf den ganzen Jackpot.
    »Für mich ist das kein Spiel. Ich möchte in mein Leben zurück«, sage ich mit fester Stimme.
    Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf.
    »Linda, dein Leben gibt es nicht mehr. Das ist ja das Interessante. Du hast keine Freunde mehr, du hast alle Mitschüler vergrault, Julchen findet dich strange, du hast deine Eltern verletzt, deine Stiefschwester in die Wüste gejagt, dein Opa ist tot. Du hast noch nicht mal mehr einen Hund, dem du deine Sorgen anvertrauen
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