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Angstspiel

Titel: Angstspiel
Autoren: C. Bertelsmann
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Vorratsraum taste. Das Licht will ich nicht anmachen. Ich taste mich an einem Regal entlang, stoße mit den Fingerspitzen gegen eine Flasche, kann sie kurz vorm Fallen festhalten. Adrenalin! Ich keuche. Da ist die Klinke. Darunter steckt der Schlüssel. Ich beiße mir vor Freude auf die Lippe. Es knackt, als ich ihn umdrehe. Womöglich hat Philipp das gehört. Jetzt muss es schnell gehen. Ich flutsche raus und renne. Quer durch den Garten, über den Jägerzaun, durch einen anderen Garten. Plötzlich ist da ein Sandkasten. Ich stolpere, fange mich ab, renne weiter. Ich möchte mich gerne umdrehen. Ist Philipp hinter mir? Steht er noch mit Luise an der Tür? Was tut er mit ihr, wenn er rafft, was los ist? Ich hoffe so sehr, dass sie sich schnell genug mit ihren Rollerblades auf den Weg gemacht hat. Ich komme auf die Straße, lasse mich hinter einem Altpapiercontainer auf den Boden fallen und lausche. Sind da Schritte? Ich gucke vorsichtig um die Ecke. Offenbar folgt Philipp mir nicht. Ich muss jetzt so schnell wie möglich zur Rolle kommen.
    Es ist ein ganz schönes Stück bis zum Park, doch ich war noch nie so schnell. Zwei Stationen fahre ich mit dem Bus, steige hinten ein, während eine Frau mit Kinderwagen und eine Oma mit Rollator sich da rauskämpfen. Durch den Park lege ich einen Sprint hin. Ich habe keine
Angst vor der Dunkelheit, was soll mir noch passieren, aber ich will zu Luise. Muss sehen, dass es ihr gut geht.
    Die Rolle dreht sich gemächlich hin und her.
    Ich sehe die Rollerblades davor und bin so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Ich lasse mich neben Luise fallen.
    Wir sagen nichts.
    Was hätte ich wohl gemacht, wenn Luise nicht angerufen hätte? Sie hat es getan, obwohl es ja die Nachricht von Tante Ines gab, dass ich in Ruhe gelassen werden wollte. Und obwohl ich alles andere als nett war zu ihr in letzter Zeit. Ich habe sie verletzt, ihre Hand zurückgewiesen. Aber sie hat mich nicht aufgegeben.
    Das Allerbeste: Sie fragt jetzt nicht. Sie wartet. Sie merkt, dass ich noch nicht darüber reden kann.
    »Das mit Bolle war echt gut«, sagt sie irgendwann vorsichtig.
    Ehrlich gesagt, da bin ich auch ein bisschen stolz drauf. Komisch, dass mir das genau in dem richtigen Moment eingefallen ist. Es ist eines der Lieblingslieder unseres Vaters, dieses »Bolle reiste jüngst zu Pfingsten«. Ein absolut schwachsinniges Nonsenslied mit einer extrem simplen und leider eingängigen Melodie. Kaum hat unser Dad ein oder zwei Bier zu viel getrunken, stimmt er lautstark diesen Lagerfeuer-Schlager an. Das Werk hat ganze sechs Strophen, die mein Vater alle kennt. Und irgendwo heißt es: »Auf der Schöneholzer Heide, da gab’s ne Keilerei.« Die Stelle mag mein Dad besonders gern und singt sie immer sehr inbrünstig. Julchen und Philipp heißen mit Nachnamen Schöneholz. Luise hat meinen Wink verstanden. Hätte jemand anders als meine Schwester das? Ich glaube nicht.
    Und dieser Gedanke öffnet die Schleusen. Ich presse mich an Luise und ich weine. Und es ist ein ganz anderes
Weinen als in den letzten Wochen. Es fühlt sich an, als würde diese ganze Angst rausgespült. Ich lasse mich in Luise fallen, möchte mich am liebsten ganz in ihr verkriechen. Ich schäme mich so, dass ich sie infrage gestellt und zurückgewiesen habe. Ich höre mich schluchzen und bin gleichzeitig so unfassbar glücklich. Ich bin nicht mehr alleine. Als ich wieder Luft bekomme, erzähle ich alles von vorne bis hinten. Ich verschweige nichts, nicht meine Ängste, nicht meinen Horror, als Psychopathin zu gelten, nicht meine Minderwertigkeitskomplexe, nicht meine miesen Verdächtigungen.
    »Wir müssen Mama und Papa anrufen«, sagt sie irgendwann.
    »Redest du bitte mit ihnen?«, frage ich leise.
     
    Papa kommt, um uns abzuholen. Ich denke »Papa« und will das immer so denken. Er sagt und fragt nichts auf dem Weg nach Hause. Keine Ahnung, was Luise ihm erzählt hat. Meine Mutter steht im Flur, als wir reinkommen. In ihrem Gesicht ist Angst und die Bitte um Verzeihung.
    »Es ist vorbei«, sage ich.
    Sie zuckt, als hätte ich ihr die Faust in den Magen gerammt.
    »Nein«, sage ich schnell. »Der Schatten über mir ist weg. Das ist vorbei.«
    Ich gehe auf sie zu, ganz nah.
    »Vielleicht können wir ja doch irgendwann wieder eine normale Familie sein«, sagt sie leise.
    »Das haben wir doch noch nie geschafft«, pruste ich raus und muss lachen.
     
    »Heute müssen wir aber zur Polizei gehen.«
    Luise und ich liegen noch im Bett. In Tausenden
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