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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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begegnete, in ihm addierten. Er hätte der Welt mitteilen können, was die Gletscher schmelzen läßt. Nie zuvor haben Frauen soviel Wärme ausgestrahlt. Das und nichts anderes ist die Klimaveränderung. Was meinst Du, Helen? Angenommen, das geht jetzt so weiter, wie soll er dann reagieren? Keine Sorge, Helen. Glaube nicht, er frage Dich im Ernst. Er weiß, daß nur er selber gefragt ist, daß er in der ganzen Welt keinen Menschen fragen kann, wie er reagieren soll, wenn morgen in der U-Bahn eine große Zwanzigjährige aufsteht und sich herabbeugt zu ihm und sagt: Wenn ich einen Schwanz hätte, würde ich dich jetzt … Nein. Darauf braucht er sich nicht gefaßt zu machen. Dieser Satz von dem Franz-Josef-Strauß-Flughafen wird nicht mehr vorkommen. Das ist deutlich geworden, es gibt keine Wiederholungen. Jede Frau hat ihre eigenen Sätze. Und es hat ihn noch keine Frau ein zweites Mal angesprochen. Schade eigentlich. Weil es keine Wiederholung gibt, gibt es keine Vorbereitung. Übrigens: Keine der Frauen, die er mit seinen Augen anbohrte, hat ihm je so einen Satz gesagt. Die, die er anbohrt, drehen sich weg oder schauen ihn mit von Mitleid trüben Augen an. Jedesmal war es eine reine Überraschung. Jedesmal durfte er sich nachher sagen, daß er alles erwartet habe, nur das nicht. Ein einziges Mal war eine, die er mit seinen Blicken angebohrt hatte, böse geworden. Verpiß dich, hatte sie gezischt. Tatsächlich hatte er dann ein paar Tage lang keinen Mut mehr zu einer weiteren Anbohrung.
    Am Kiosk, wo er jeden Tag seine Zeitungen kauft, bedient seit einigen Tagen eine Neue. Keine fünfundzwanzig. Allzu schwarzgetönte, den Kiosk praktisch sprengende Haare. Eine zu hohe, nie weich werdende Stimme. Ein überall genau und knapp geschwungenes Gesicht und eine sanft sich rundende Stirn, unter der die Augen fast in einer Tiefe liegen. Im Zeitungskiosk, eine solche Erscheinung. Eine schwarze Jeansjacke mit viel zu vielen grellweißen Nähten. Die Person selber ist bestürzend blaß. Und vorgestern, als er wieder seine Zeitungen entgegennahm, sagte sie, als sie ihm das Wechselgeld in die Hand zählte: Ich hab noch einen Fick gut bei dir. Und da sind doch immer noch Leute in der Nähe. Und die tun jedesmal so, als hörten sie diese Sätze nicht. Das kann die feinste Art mitteleuropäischer Toleranz sein. Dann hat die Aufklärung tatsächlich was gebracht. Oder es ist eine Art schmerzlicher Resignation. Die Sätze sind ihnen so peinlich, daß sie keine Chance sehen, da noch rettend einzugreifen. Er hatte nicht den Mut, die Leute zu fragen. Er war ja jedesmal, wenn ihm ein solcher Satz serviert wurde, selber verwirrt. Selig verwirrt allerdings. Mein Gott. Bis zur Unzurechnungsfähigkeit glücklich. Aber natürlich genauso unglücklich. Als die unter ihrem schwarzen Haarstrudel so bestürzend Blasse ihm einen Tag später das Wechselgeld in die Hand zählte, sagte sie gewissermaßen schonungslos: Ich denke mit der Fotze an dich. Er kann da einfach keine Zeitungen mehr kaufen. Wie hat Rilke zu Joni gesagt? Du mußt dein Leben ändern. Das muß er sich auch gesagt sein lassen.
    Weißt Du, Helen, das Altwerden beziehungsweise seine Folgen würden, wenn man sie gestünde, wie eine Niederlage wirken. Daß er der Idiot der Saison ist, bitte. Ihn krönt die Lächerlichkeit. Bitte. Alles im Dienste der gewöhnlichen Verzweiflungsvermeidung. Bitte.
    Liebe Helen, unter anderen Umständen ist jeder ein anderer Mensch.
    Wer keinen Halt mehr hat, kommt auch, wenn er nicht gerufen wird.
    Mehrere Frauen schließen einander überhaupt nicht aus. Sie nehmen einander nichts weg. Jede ist ganz anders als alle anderen. Man kann nicht sagen, man könne abends keinen Apfel essen, weil man mittags Schnitzel gegessen hat. Wegen der Einzigartigkeit jedes Menschen gibt es gar keine Untreue. Vorausgesetzt, Liebe ist nicht im Spiel.
    (Setze, bitte, hier für Frauen Männer ein.)
    Er ist enttäuscht. Er hatte gehofft, im Alter nehme eine Art Sterbebereitschaft zu. Es entwickle sich eine Fähigkeit zu sterben. Hatte er gehofft. Man sei am Leben nicht mehr so interessiert. Jetzt erlebt er, daß das nicht stimmt. Er ist dem Tod sicher so nah wie nie zuvor, aber vom Leben kein bißchen weiter weg als vor dreißig Jahren. Leben ist immer noch etwas, von dem man nicht genug kriegen kann.
    Wunschdenken: Das rabiate Genießen des Verblühtseins einer Frau. Die Gemeinsamkeit des Zerfalls als die endgültige Gemeinsamkeit.
    Es grüßt ergebenst
    Heinrich   IX.
    Er
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