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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition)
Autoren: Wolfgang Ehmer
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Hautschere, die Polier- und Sandblockfeilen, den Nagelhautschieber, das Aceton und den Nagellack in Reichweite auf dem Couchtisch vor sich ausgebreitet, würde sie diese Beschäftigung mit sich selbst genießen, bei der sie auf jede Störung gereizt reagieren würde. Erst wenn sie pustend den Trockenvorgang des Nagellacks beschleunigen würde, indem sie jeden einzelnen Finger wedelnd vor dem Mund hielte, wäre sie wieder ansprechbar.
    Christian fühlte sich von seiner Mutter beobachtet, als er ein paar Minuten später die Küche betrat, um das Abendessen vorzubereiten, eine seiner Pflichten, denen er sich nicht entziehen konnte, wenn er zu Hause war. Die Schnitten wurden schon in der Küche fertiggestellt und dann auf einer großen Platte serviert. Dazu gab es schwarzen Tee. Die Brotscheiben waren abgezählt, der Vater und Christian aßen jeweils fünf, die Mutter und Renate drei. Das hatte sich so ergeben und sie waren dabei geblieben, ohne darüber zu reden oder die Verteilung infrage zu stellen. Christian erinnerte sich nicht daran, jemals mehr oder weniger genommen zu haben, und als Günter ins Leben seiner Schwester trat, wurden auch ihm fünf Schnitten zugeteilt, obwohl er mehr hätte essen können bei seiner Größe und den über achtzig Kilogramm Lebendgewicht.
    Christian wusste, dass seine Mutter ihn nicht fragen würde, was er am Nachmittag unternommen hätte, aber er spürte, dass sie ihn beobachtete, sich Gedanken machte und erwartete, dass er sich über seine außerschulischen Aktivitäten äußern würde, wie er es eigentlich immer tat, und obwohl er so unbefangen wie möglich über seine innere Spannung hinwegzutäuschen versuchte, geriet ihm die Unterhaltung mit seiner Mutter zu künstlich, sein Eifer beim Brotschmieren zu gewollt. Die Blicke der Mutter verrieten sie und setzten in ihm einen Kreislauf in Gang, der ihn immer mehr daran hinderte, gelassen zu bleiben und irgendeine Geschichte eines normalen Tagesablaufs anzubieten. Deshalb versiegte sein dünnes Rinnsal bemühter Sätze und er schwieg und spürte förmlich, wie das Misstrauen in seiner Mutter wuchs und sich mit ihm die Tore zu einer unkomplizierten Unterhaltung schlossen.
    Ingeborg Lorenz schüttelte kurz den Kopf, ein Dann-Nicht andeutend, und verließ die Küche. Sie war noch weit entfernt, sich Sorgen zu machen. Sie nahm Christians Rückzug als normale Reaktion eines pubertierenden Jugendlichen, den man in Ruhe lassen sollte. Er würde sich schon wieder einkriegen, wenn ihm danach wäre. Ihr Naturell neigte nicht zu Aufgeregtheiten. Sie war praktisch veranlagt. Im Wohnzimmer streifte sie mit einem Blick das aufgeschlagene Buch auf dem Couchtisch und sie geriet beinahe in Versuchung, ein paar Seiten in Vicki Baums Roman Menschen im Hotel zu lesen, den sie gerade verschlang und der nur einer unter vielen aus der gebundenen Bertelsmann-Reihe war, die das Bücherbord bevölkerte und jeden Monat um ein weiteres Exemplar wuchs.
    Lesen war ihre Leidenschaft. Die Knie angewinkelt und unter das Gesäß gezogen, auf der halbrunden gelben Couch sitzend, konnte sie stundenlang eintauchen in die Welt ihrer Romanfiguren und sie sollte ein paar Jahre später die Einzige unter all ihren Freundinnen und Bekannten sein, die jeden einzelnen Band von Angélique von Anne Golon gelesen hätte, in einer Intensität, die Missstimmungen und Vernachlässigungen produzierte, die sie jedoch gänzlich zu ignorieren wusste.
    Sie schaute sich im Wohnzimmer um, drehte sich um die eigene Achse und ihr Gesicht drückte den Ansatz eines Staunens aus, als wenn die Wahrnehmung des Interieurs etwas Überraschendes zu Tage förderte. Die Sitzgruppe mit der geschwungenen Couch und den in Altrosa gehaltenen Sesseln um den Nierentisch mit der dunkelbraunen, lackierten Oberfläche, die modernen Wandregale mit den tapezierten, weiß gestrichenen und versetzbaren Brettern, der hellgraue Teppichboden mit der Musikkonsole und der Esstisch, an dem sechs Personen Platz nehmen konnten, waren die ersten großen Anschaffungen gewesen, die sich Familie Lorenz leistete. Natürlich auf Pump, aber mit günstigen Zinsbedingungen und niedriger Rate, sodass die Familie sich nicht allzu sehr nach der Decke strecken musste. Die Stehlampe mit den drei trichterförmigen Schirmen und die Drucke von Marc Chagall unterstrichen den modernen Stil des Zimmers. Ihr Blick blieb in der Ecke gegenüber dem Ofen hängen. Hier stand der Fernseher, verborgen in einem Sideboard aus dunkel gebeiztem, lackiertem
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