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anderbookz Short Story Compilation II

anderbookz Short Story Compilation II

Titel: anderbookz Short Story Compilation II
Autoren: Joyce Carol Oates , Peter Straub , Jewelle Gomez , Thomas M. Disch , Ian Watson , Robert Silverberg
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Schlüsse. Man hat mich sehr gut gestaltet, Gioia. Ich kann keinen Unterschied feststellen zwischen dem, was ich bin, und dem echten Leben. Für mich ist das real genug. Ich denke, ich fühle, ich empfinde Schmerz. Ich bin so real, wie ich sein muß. Und du wirst es auch sein. Du wirst nie aufhören, Gioia zu sein. Es ist nur dein Körper, den du verlieren wirst, dieser Körper, der dir solch einen schrecklichen Streich gespielt hat.« Er strich ihr mit der Hand über die Wange. »Schon vor langer Zeit hat jemand folgendes gesagt über uns:

Einmal naturentrückt sei nie bestellt
    Form meines Körpers irgend aus Natur,
    Doch solcher Form, die Hellas’ Goldschmied wählt
    Aus Gold gehämmert und mit Goldlasur,
    Daß selbst ein schläfrig Kaiser wachend bleibt ...«

    »Ist das dasselbe Gedicht?« fragte sie.
    »Dasselbe Gedicht, ja. Das alte Gedicht, das noch nicht ganz vergessen ist.«
    »Fahr fort, Charles.«

»... Auf goldnem Zweig gesetzt, ein Lied zu singen
    Den Herrn und Damen von Byzanz
    Von dem, was war, am vergehen ist, und kommt.«

    »Wie schön. Was bedeutet das?«
    »Daß es nicht zwingend ist, sterblich zu sein. Daß wir uns in der Unnatürlichkeit der Ewigkeit versammeln dürfen, daß wir verwandelt werden können, daß wir uns über das Fleisch hinaus erheben können. Yeats hat es nicht so gemeint, wie ich es jetzt empfinde, er hätte nicht verstanden, worüber wir beide hier reden, nicht ein Wort von all dem - und dennoch, und dennoch - die darunter liegende Wahrheit ist die gleiche. Leben, Gioia! Mit mir!« Er wandte sich zu ihr um und sah, wie ihre blassen Wangen wieder Farbe bekamen. »Was ich vorgeschlagen habe, ergibt einen Sinn, nicht wahr? Du wirst es versuchen, nicht? Wer immer die Besucher schafft, kann auch dazu bewogen werden, dich neu zu gestalten. Stimmt’s?«
    Sie nickte kaum wahrnehmbar. »Ich glaube ja«, sagte sie schwach. »Es ist sehr seltsam, aber ich denke, es müßte möglich sein. Warum nicht, Charles? Warum nicht?«
    »Ja«, sagte er. »Warum nicht?«

    Am nächsten Morgen mieteten sie ein Boot im Hafen, eine flache, glänzende Piroge mit blutrotem Segel, die von einem verwegen aussehenden Temporären gesteuert wurde, der ein unwiderstehliches Lächeln besaß. Phillips schirmte mit der Hand seine Augen gegen die Sonne ab und schaute nach Norden übers Meer. Er glaubte fest, die Silhouette dieser großen Stadt sehen zu können, die auf sieben Hügeln lag. Constantins Neues Rom, nahe dem Goldenen Horn, die mächtige Kuppel der Hagia Sophia, die düsteren Mauern der Zitadelle, die Paläste und Kirchen, das Hippodrom und über allem, in leuchtendem Mosaik, Christus in seiner Herrlichkeit, von Licht überflutet.
    »Byzanz«, sagte Phillips. »Bring uns auf dem schnellsten und kürzesten Weg dahin.«
    »Es ist mir ein Vergnügen«, sagte der Bootsmann mit überraschender Anmut.
    Gioia lächelte. Er hatte sie seit dem kaiserlichen Fest in Ch’ang-An nicht mehr so voller Lebensfreude gesehen. Er nahm ihre Hand - ihre schlanken Finger zitterten leicht - und half ihr in das Boot.

    © 1985 by Agberg, Ltd.
    (erstmals erschienen in ›Asimov's Science Fiction‹, Februar 1985)
    Übersetzt von Karin Koch
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