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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie
Autoren: Bass jefferson
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wissen, dass Sie sie auch verlieren würden? Zu wissen, dass ein anderer Mann – einer aus der verhassten O’Conner-Familie – dabei war, diese junge Frau zu pflücken, die Sie die ganze Zeit am Stock hatten reifen sehen?«
    Art trat auf die Veranda, das Foto auf Armeslänge vor sich schwenkend wie eine Waffe. Ich dachte daran, wie er das Foto im Fingerabdrucklabor im Polizeirevier von Knoxville gehalten hatte, das brennende Foto des Verdächtigen in seinem Entführungsfall, und ich bewunderte, mit welcher Macht er Fotos ausstatten konnte. Vielleicht hatten die Indianer ja recht: Vielleicht fing die Kamera tatsächlich ein Stück der Seele ein.
    »Als Ihnen klar wurde, dass sie Jim O’Conner heiraten würde, haben Sie dieses Mädchen gezwungen, nicht wahr, Reverend? Sie war noch Jungfrau, aber das wussten Sie, nicht wahr? Das war Teil der Versuchung, nicht wahr?« Kitchings stand jetzt mit dem Rücken an der Hauswand und warf den Kopf von einer Seite auf die andere, als prasselten die Worte auf sein Gesicht ein wie Schläge. Ich dachte daran, wie Art Jack Nicholson und Faye Dunaway nachgemacht hatte – sie war meine Nichte; sie war meine Geliebte; sie war meine Nichte und meine Geliebte. »Hat sie geweint, Reverend? Hat sie Sie angefleht, es nicht zu tun, oder war sie zu stolz, um zu flehen? Wie haben Sie es gemacht? Haben Sie sie geschlagen? Haben Sie ihr ein Messer an die Kehle und eine Hand auf den Mund gehalten?« Während Art unbarmherzig näher trat, rutschte der alte Mann langsam an der Wand herunter. Die Knie gaben unter ihm nach. »Und als Sie Ihren Samen in sie ergossen hatten, Reverend – in Ihre eigene Nichte, Reverend –, haben Sie sie da gebeten, Ihnen zu verzeihen? Oder haben Sie nur zu Gott gebetet, dass Sie nicht erwischt werden?« Kitchings hockte jetzt zu Arts Füßen, atmete schwer und schluchzte. »Und Monate später, Reverend – als man allmählich sah, dass sie schwanger war –, was hat Gott da gesagt, als Sie die Hände um ihre Kehle gelegt und zugedrückt haben?«
    »Nein«, flüsterte er. »Oh, Gott der Herr, nein.«
    Ich hielt die Luft an. Die beiden Männer auf der Veranda rührten sich nicht. Selbst der Wind schien die Luft anzuhalten, denn plötzlich senkte sich eine unheimliche, spannungsgeladene Stille über uns, als wartete der ganze Kosmos darauf, was als Nächstes geschah. Und in dieser plötzlichen Stille hörte ich das unverwechselbare Klicken einer Schrotflinte, die aufgeklappt wurde und dann wieder einrastete.
    »In Ordnung, Mister, Sie treten jetzt zurück«, sprach eine näselnde weibliche Stimme, die ich von meinem Gespräch mit Mrs. Kitchings kannte. Die Fliegengittertür öffnete sich quietschend gegen ihre rostige Feder und schlug klappernd wieder zu, als Mrs. Kitchings aus dem Haus auf die Veranda trat. »Nehmen Sie die Hände hoch«, sagte sie zu Art, ihre Worte mit der Schrotflinte unterstreichend. »Sie auch«, fügte sie hinzu und richtete die gähnenden Zwillingsläufe auf mich.
    Ich stand wie angewurzelt da, zu verblüfft, um mich zu rühren. Sie hob das Gewehr an die Schulter. Ihr Mund verzog sich zu einer dörrpflaumenähnlichen Grimasse. Aus einem der beiden Läufe löste sich ein Schuss, und ich spürte einen sengenden Wind an meinem rechten Ohr vorbeizischen. Hinter mir hörte ich, wie die Windschutz-Scheibe meines Pick-ups barst. »Ich habe gesagt, Sie sollen die Hände hochnehmen. Mit dem nächsten Schuss puste ich Ihnen die Birne weg. Eins. Zwei.« Ich hob die Arme.
    »Und jetzt gehen Sie beide da rüber ans Ende der Veranda. Los jetzt.«
    Ich tat wie geheißen und stieg die Stufen hinauf wie zu einem Galgen. Art trat neben mich.
    Der alte Mann mühte sich auf die Füße und humpelte auf seine Frau zu. Er streckte die Hand nach der Flinte aus und sagte: »Vera …« Der Lauf erwischte ihn genau am rechten Wangenknochen. Das Korn schrammte über die Haut und riss einen tiefen, ausgefransten Schnitt, der sofort anfing zu bluten. Er taumelte rückwärts gegen das Geländer der Veranda, eine Hand an die Wange gedrückt. »Vera …«
    »Du hältst das Maul. Da rüber zu den beiden.«
    »Vera, hör mir zu.«
    »Nein. Nein! Jetzt hörst du mir mal zu, du erbärmliches Stück Scheiße, und bewegst deinen Arsch zu den beiden da rüber.« Kitchings sackte in sich zusammen und kam mit schlurfenden Schritten neben mich. »Dreißig Jahre lang habe ich deinetwegen Gift geschluckt, Thomas Kitchings, und jetzt habe ich genug. Es reicht, es reicht jetzt. Das hat
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