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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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seiner Mutter nie verziehen hatte, dass sie einfach den Schlitz zunähte und behauptete, die Unterhose sei wie eine echte Badehose. Die Geschichte machte uns deutlich, dass Seán viel älter war als wir – was auch das Steinhaus in Fionas und Shays Nachbarschaft in Enniskerry erklärte. Conor und ich bekamen immer noch einen Rentnerkoller, wenn die Leute uns ihre Immobilien unter die Nase rieben. »Du hast ein schönes Haus? Das kommt, weil du alt bist, du Mistkerl«, obwohl Seán – drahtig und kompakt, wie er war – noch nicht einmal ganz erwachsen aussah. Die beiden, Mann und Frau, glichen Kaminornamenten, so wie jeder von ihnen sich auf ganz eigene Weise bewegte, und ich spürte, wie ich mich, neben ihnen auf dem Strand, allmählich aufblähte. Ich war ungeheuer groß! Ich war ungeheuer geil! Ich war … vorsichtig. Wenn ich Seán ansah und er mich, dann geschah es immer Auge in Auge.
    Wie ich später herausfand, beurteilte Seán meinen Körper weder so noch so. Er wartete einfach mein eigenes Urteil ab und lächelte es mir wieder zu. Das war einer seiner Tricks. Über seine Tricks hätte ich Bescheid wissen sollen.
    Zum Beispiel, als zwei bildschöne hochgewachsene Teenager vorbeikamen; er starrte sie eine Sekunde zu lange an – starrte sie durchdringend an, als müsste er auf der Stelle hinübergehen und sie vögeln. Dann wandte er sich wieder ab und betrachtete meine enttäuschende Gestalt.
    Das hat mich ziemlich versengt, muss ich sagen.
    Deshalb fing Fiona an, über den Kauf eines Hauses in Frankreich zu plappern, weil sie Seán beeindrucken wollte – einen Mann, der in seiner knappen Badehose nicht gerade ein Sirenengesang war. Er stachelte uns an. Alles, was er sagte, war lustig, und alles schien einen kleinmachen zu wollen. Oder aufzurichten. Auch das beherrschte er. Er saß herum; ein schwarzes T-Shirt bedeckte den kleinen Hügel seines Bauches, und mit seinen kräftigen weißen Zehen stocherte er im Sand.
    Selbst in der prallen Sonne fiel mir auf, wie schön seine Augen waren, größer, als Männeraugen sein sollten, und verletzlicher. An diesem Nachmittag sah ich das Kind in ihm, es war leicht zu erkennen: ein achtjähriger Charmeur voller Dummheiten und Angeberei. Aber ich weiß nicht, ob ich merkte, wie kalkuliert das alles war. Ich glaube nicht, dass ich merkte, wie sehr ihn seine eigenen Gelüste bedrohten oder dass Eifersucht und Begehren bei ihm so dicht beieinanderlagen, dass er nicht umhinkonnte, das, wonach ihn verlangte, ein wenig zu erniedrigen. Mich zum Beispiel.
    Oder nicht mich. Es war schwer zu sagen.
    Am Ende jedenfalls trumpften wir alle auf. Da saßen wir nun, fast ganz nackt, in unseren sehr gewöhnlichen irischen Körpern (bis auf den Fionas, doch der wurde eben nicht auf dem Präsentierteller gereicht), und prahlten ein Weilchen, während die Kinder im Sand buddelten und umherrannten und der Strand und der Himmel in aller Schönheit ohne uns fortbestanden.
    »Gott noch mal«, sagte Conor auf dem Nachhauseweg im Auto. »Was sollte das alles eigentlich?«

Will You Love Me Tomorrow
     
    In jenem Winter klagte Joan über geschwollene Füße, was ein schrecklicher Schlag für unsere Mutter war, weil sie jetzt den Spalieren von Schuhen, die sich im Lauf von dreißig Jahren angesammelt hatten, zugunsten von Großmutterstiefeln abschwören musste. Sie verabscheute es zutiefst. Im Reformhaus besorgte sie sich Nahrungsergänzungsmittel und klagte über Depressionen – sie war, wie mir schien, tatsächlich depressiv –, und weder ihr noch irgendeinem von uns fiel etwas anderes ein, als herumzujammern und am Telefon über Stummelabsätze und Pfefferminz-Fußlotion zu reden und darüber, in welchen unterschiedlichen Farbtönen Stützstrümpfe erhältlich waren.
    Und ich nahm wieder die Pille, was nicht unbedingt wichtig ist – abgesehen davon, dass die Pille mich immer depressiv macht: diffus, schuldbewusst und ständig ein klein bisschen geschwollen, sodass meine Oberfläche irgendwie zu dämlich und bedürftig wirkt. Ich erkläre die Sache nicht besonders gut. Ich glaube einfach, dass alles anders gekommen wäre, wenn ich die Pille nicht genommen hätte. Möglicherweise hätte ich meiner Mutter am Telefon besser zuhören oder klarer denken können. Aber es war, als hätte ich mich an die Ränder meiner selbst begeben. Fragt sich nur, was in der Mitte war. Nichts, das wäre eine Antwort. Oder nicht viel.
    Und ich hatte viel zu tun, schien unentwegt im Flieger zu sitzen. Es gab Zeiten,
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