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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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des Nachmittags tauchte mein Schwager Shay auf. Er blieb auf dem Rasen stehen, hielt sein Handy in die Höhe und schaltete es mit einer übertriebenen Geste aus. Dann kam er aufs Deck, küsste Fiona und warf ein Hallo in die Runde. Schließlich betrat er den Wohnwagen, stellte den Fernseher ab und ordnete, indem er nach Schwimmsachen, Badetüchern und aufblasbarem Spielzeug rief, einen Strandausflug für alle an. Unterdessen suchte Fiona – mehr oder weniger erfolgreich – fehlende Sandalen und Türschlüssel und hundert andere mysteriöse Objekte zusammen, die ihre Kinder benötigten: Wasser, Sonnencreme, einen grünen Visor für Golfer, an dem Megan hing, Jacks gelbe Plastikharke; Kinder tun einfach alles, um an dem Ort zu bleiben, an dem sie sich gerade wohlfühlen – selbst wenn sie ihre Mutter damit zur Verzweiflung treiben.
    »Hast du schon mal von einer Irène Ahn Stahlt gehört?«, fragte ich Megan, die mich mit weisen Äffchenaugen betrachtete. Unterdessen las Seáns Frau Aileen Zeitung, bis endlich alle fertig waren, dann ging sie zu ihrem Auto und holte eine einzige Tasche aus dem Kofferrraum.
    »Fein!«, sagte sie. »Auf geht’s!«
     
    Conor lachte die ganze Heimfahrt über.
    »Das Eis!«, sagte er. »Dieses verdammte Eis!«
    Und ich intonierte: »Evie isst kein Eis, nicht wahr, Evie?«
    »Herr im Himmel.«
    »Anscheinend hat sie irgendwas. Das Mädchen«, sagte ich; denn das hatte mir Fiona beim Abwasch zugemurmelt.
    »Was?«
    »Du weißt schon, irgendwas stimmt mit ihr nicht. Fiona hat nicht gesagt, was.«
    Kein Zweifel, Evie war ein seltsames, gestörtes kleines Ding. Sie schien nicht dassselbe Alter oder denselben Entwicklungsstand wie Megan zu haben, obwohl sie beide um die acht waren – aber vielleicht war ich auch nur voreingenommen, weil meine Nichte solch ein kleiner Kobold war. Wäre ich mit diesen Dingen besser vertraut gewesen, hätte ich sie vielleicht auf einer Skala eingeordnet oder es wenigstens versucht. Andererseits hatte Evie ihre fünf Sinne beisammen, war hellwach, bebte geradezu vor Wachheit – nur tat sie sich mit allem so schwer. Ob daran, wie ich vermutete, ihre Mutter schuld war, könnte ich nicht mit Gewissheit sagen. Aber ich fand sie doch ziemlich unerträglich. Kann sein, dass es mit dem Fett zu tun hatte, mit diesen molligen, zum Küssen einladenden Babyhandgelenken, zu denen das Gesicht darüber und die Augen nicht passen wollten. Natürlich habe ich das nicht zu Conor gesagt. Ich meine, möglicherweise habe ich gesagt: »Ein ganz schönes Bündel«, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht gesagt habe, ihr Fett sei mir unangenehm; meine »Unfähigkeit zu lieben«, wie Megans Lehrerin dieser Tage eine Sünde definiert, gestand ich nicht ein. Im Übrigen blieb von dem leichten Verdruss, den Evies Anblick in mir auslöste, am Ende nur ein kleiner Rest zurück, etwas Gelassenes und zugleich Gespanntes.
    Mitleid.
    »Das arme Kind«, sagte ich. »Das liegt alles nur an ihr, weißt du«, womit ich die Mutter meinte. Und Conor sagte: »Man sollte sie beide erschießen.«
    Damals schien er sie beide recht gern zu mögen. Auf unserem Treck zur kalten Irischen See hatte er mit Seán geplaudert, während Fiona ihren Kindern nachjagte, um ihnen Badesachen und Sonnencreme aufzuschwatzen, und Shay hatte eine Flasche Rotwein geöffnet, sich auf die Decke gesetzt und ganz und gar abgeschaltet – mit furchterregender Geschwindigkeit, wie ein Stromausfall in Manhattan.
    »Ich finde, er sah schrecklich aus«, sagte ich im Auto zu Conor.
    »Wer?«
    »Mein Schwager«, antwortete ich. »Ich finde, er sah richtig scheiße aus.«
    »Shay ist in Ordnung«, sagte er. »Mach dir mal um Shay keine Sorgen.«
    Conor war dieser Tage etwas begriffsstutzig. Zum Beispiel fand er die ganze Verhütungsgeschichte in letzter Zeit »nicht ganz zweckdienlich«. Was für einen Zweck er meinte, ließ er offen.
    Soweit ich mich erinnere, redeten wir nicht über Seán. Vielleicht war es nicht nötig. Gut möglich, dass wir den Rest der Heimfahrt in einträchtigem Schweigen verbrachten.
    In seiner Badehose machte Seán – mein Ruin, mein Schicksal – keine besonders eindrucksvolle Figur. Vermutlich galt das für uns alle. Im nackten Sonnenlicht sahen wir wie gehäutet aus. Fiona, seinerzeit das schönste Mädchen in Terenure, gab sich natürlich nicht die geringste Blöße. Sie hatte eine Art, mit Sarong und Badetuch umzugehen, die eher nach Cannes passte als nach Brittas Bay, und als wir mit dem
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